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M wie Mendelssohn

Manasse, Käthe

geb. Loewy, Richterin, geb. 7.2.1905 Berlin, gest. 2.7.1994 Hamburg

M. entstammte einer bürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie aus Berlin. Geprägt wurde ihr Lebensbild von ihren drei Brüdern, die sich früh dem → Zionismus [1] anschlossen. Nach dem Abitur studierte M. zunächst Nationalökonomie in Berlin, widmete sich aber später den Rechtswissenschaften. 1932 bestand sie das Assessorexamen. Nach kurzer Zeit als Richterin in Berlin wurde sie aufgrund des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« im März 1933 entlassen. Sie arbeitete einige Monate als Rechtsanwältin, bis ihr die Zulassung entzogen wurde. 1938 emigrierte sie nach Haifa (Palästina). Ihren Beruf konnte sie dort nicht ausüben, engagierte sich aber in sozialen Einrichtungen. So amtierte sie u. a. einige Jahre als Leiterin des Sozialwerkes der deutschen Einwanderer-Gesellschaft (Histadrut Oleij Germania) und unterstützte außerdem eine Frauenorganisation zum Schutze der orientalischen Jüdinnen. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Juristen Fritz Manasse, kehrte sie 1949 nach Deutschland zurück und zog nach Hamburg. Hier wurde sie zunächst Referentin im Amt für → Wiedergutmachung [2], bevor sie 1952 wieder zur Richterin berufen wurde. Von 1962 bis zu ihrer Pensionierung war sie Landgerichtsdirektorin. Seit 1953 versah M. ehrenamtliche Tätigkeiten in der Hamburger → Jüdischen Gemeinde [3], deren Beirat sie zunächst als Mitglied, von 1976 bis 1989 dann als Vorsitzende angehörte. Ihr besonderes Interesse galt der von ihr 1972 gegründeten »Gruppe der Älteren« innerhalb der Hamburger Jüdischen Gemeinde, die sie bis zu ihrem Tod leitete. M. hatte überdies zahlreiche Ehrenämter inne: Sie war langjährige Vorsitzende des Frauenhilfswerks des Magen David Adom (Roter Davidstern) in Hamburg, jüdische Vorsitzende der → Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit [4] sowie Mitglied in nationalen und internationalen Juristinnenorganisationen.

Gabriela Fenyes

Marcus, Mary

(auch: Miriam, Marianne), Pädagogin und Schulleiterin, geb. 16.8.1844 Hamburg, gest. 22.4.1930 Hamburg

M. gehört zu den Hamburger Pädagoginnen, die sich um die Mädchen- und Frauenbildung besonders verdient gemacht haben. Die Tochter eines Kaufmanns wuchs nach dem frühen Tod der Mutter bei Pflegeeltern auf. Sie besuchte gemeinsam mit christlichen Schülerinnen eine private Mädchenschule und bereitete sich in Seminarkursen und autodidaktisch auf den Lehrerinnenberuf vor. Nach erster Praxiserfahrung an einer privaten höheren Mädchenschule und als Erzieherin bei einer Familie wurde sie 1868 zur Vorsteherin der Unterrichtsanstalt für arme israelitische Mädchen (42) berufen, einer 1798 aus dem Geist der Aufklärung gegründeten Stiftungsschule. Die Begegnung mit Kindern aus sozial schwachen Familien festigte in ihr die Überzeugung, dass man dieser Benachteiligung durch eine gründliche Bildung und Erziehung entgegenwirken müsse. Als weitere wichtige soziale Aufgabe erkannte sie die Einrichtung von Erholungsheimen und Ferienkolonien für die oft kränklichen, schlecht ernährten Kinder. 1884 wurde M. zur Vorsteherin der Israelitischen Töchterschule (89) ernannt, die aus der Zusammenlegung der israelitischen Mädchenschule von 1798 und der Mädchen-Armenschule (43) der → Deutsch-Israelitischen Gemeinde [5] entstanden war (→ Schulwesen [6]). Damit hatte sie als Direktorin einer großen, von 400 bis 500 Schülerinnen besuchten Schule eine einzigartige Position in Hamburg inne, da Frauen sonst höchstens kleine Privatschulen leiteten. Gegen zahlreiche Widerstände setzte sie einen anspruchsvollen Lehrplan für ihre Mädchen-Volksschule durch, um Standesunterschiede und die Bildungskluft zwischen Volksschülerinnen und »höheren Töchtern« zu überwinden. Erfolgreich erprobte sie an ihrer Schule moderne, reformpädagogische Unterrichtsmethoden. Die 1908 von ehemaligen Schülerinnen gegründete Mary-M.-Stiftung stellte sie für die Berufsausbildung bedürftiger Schulabgängerinnen zur Verfügung. 1924 trat sie in den Ruhestand. In Hamburg-Bergedorf erinnert seit 1985 die »Mary-M.-Kehre« an die Reformerin der jüdischen Mädchenbildung in Hamburg.

Ursula Randt

Markon, Isaak Dow Ber

Orientalist und Bibliothekar, geb. 27.1.1875 Rybinsk (Wolga), gest. 28.3.1949 London

M., der aus einer russisch-jüdischen Großkaufmannsfamilie stammte, studierte ab 1896 Orientalistik und Jura an den Universitäten St. Petersburg und Berlin, wo er sich zugleich am orthodoxen Rabbiner-Seminar einschrieb. Von 1901 bis 1917 arbeitete er als Bibliothekar in der hebräischen Abteilung der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg. Zwischen 1918 und 1920 lehrte er als Dozent für Jüdische Studien an der St. Petersburger Universität, seit 1922 bekleidete er ein Ordinariat an der Universität in Minsk. 1924 verließ M. Russland und ging nach Berlin. Hier hielt er zunächst Gastvorlesungen am Rabbiner-Seminar, seit 1926 beteiligte er sich als Redakteur und Mitarbeiter an verschiedenen jüdischen Lexika und Enzyklopädien, für die er mehrere hundert Artikel verfasste. Nach Hamburg kam M. 1928, nachdem ihm die → Deutsch-Israelitische Gemeinde [5] die Leitung der → Jüdischen Bibliothek und Lesehalle [7] angetragen hatte. Dank seiner wissenschaftlichen Kontakte trug er maßgeblich zum Auf- und Ausbau der Bibliothek bei. Zudem veröffentlichte er Aufsätze zur Geschichte der Hamburger Juden und war aktiv in der Erwachsenenbildung, veranstaltete Kurse in der → Franz-Rosenzweig-Gedächtnisstiftung [8] und nahm als Mitglied der Hamburger Beerdigungsbrüderschaft (→ Beerdigungswesen [9]) und der Steinthal-Loge (→ Logenwesen [10]) am gemeindlichen Leben teil. 1938 wurde er als jüdischer Bürger der Sowjetunion aus Deutschland vertrieben. Nach einem Aufenthalt in Amsterdam gelang ihm 1940 die Flucht nach Großbritannien, wo er dem Montefiore College in Ramsgate beitrat. Für die Commission for European Jewish Cultural Reconstruction beschrieb er die Kulturgutverluste der Hamburger, Altonaer und Wandsbeker Bibliotheken und Einrichtungen.

Alice Jankowski

May, Raphael Ernst

Wirtschaftspublizist, geb. 21.2.1858 London, gest. 7.7.1933 Hamburg

Als Publizist seiner statistisch gewonnenen Erkenntnisse in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften fand M. in der Zeit von 1895 bis 1920 großes Interesse weit über Hamburg hinaus. Seine Kindheit in Hamburg im Kreis von sieben Geschwistern wurde durch den Tod des Vaters Simon May 1866 jäh unterbrochen. Dieser war Textilgroßhändler mit Großbürgerbrief und als Registrator und Vorsteher der → Deutsch-Israelitischen Gemeinde [5]hoch geachtet gewesen. Raphael Ernst kam zu Verwandten nach Frankfurt a. M., wo er den Besuch einer jüdischen Oberschule mit mittlerer Reife beendete und eine Kaufmannslehre im Metallhandel abschloss. Nach verschiedenen in- und ausländischen Stationen als Kaufmann heiratete er in London Blanche Adler und übersiedelte 1889 wieder nach Hamburg. Hier wurden Tochter und Sohn geboren. Als Teilhaber und späterer Alleineigentümer der Firma Alexander Jahn & Co., Zuckergroßhandel, handelte er erfolgreich im risikoreichen Termin-Warengeschäft, in dem es hauptsächlich auf die umfassende Berücksichtigung von Informationen ankommt. Zusammenfassungen solcher Informationen veröffentlichte er wochenweise in den Handelsteilen Hamburger und Berliner Zeitungen, fand damit immer größere Beachtung und brachte daraufhin seit 1895 Jahresberichte zur allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung heraus. M. hatte beobachtet, dass der Massenkonsum anwuchs, die marxistische Vorhersage von der langsamen Verelendung der Arbeiter also nicht eintraf. Während des großen Streiks der Hamburger Hafenarbeiter 1896/97, deren berechtigte Forderungen nach verbesserten Arbeitsbedingungen M. unterstützte, suchte er die Zusammenarbeit mit Gewerkschaftsfunktionären, besonders mit dem Führer der Tabakarbeiter und sozial-demokratischen Reichstagsabgeordneten Adolf von Elm. M. war der Mentor für die 1898 erfolgte Gründung des Konsum-, Bau- und Sparvereins »Produktion«. In der veröffentlichten Gründungsgeschichte wurde durch Elms Einflussnahme M.s Anteil stark geschmälert, was diesen zeitlebens gekränkt hat. Zugleich stand M. in bleibendem freundschaftlichen Kontakt zu Eduard Bernstein und versorgte ihn mit statistisch begründeten Argumenten zur Marx-Kritik. Von 1900 an widmete sich M. nur noch seinen Publikationen, die als Aufsätze in renommierten Fachzeitschriften wie Schmollers Jahrbuch, Preußische Jahrbücher, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Finanzarchiv usw. oder als eigene Buchveröffentlichungen erschienen. Themen waren das Volkseinkommen, der Konsum, Steuern und demographische Fragen. Seit Beginn des Ersten Weltkrieges arbeitete er ehrenamtlich in der Hamburger Nachrichtenstelle des preußischen Generalstabes über Außenwirtschaft und Ernährungslagen. Als Militärkreise behaupteten, Juden würden sich vom Fronteinsatz drücken, verfasste M. 1917 eine dies widerlegende Konfessionelle Militärstatistik. Während der Weimarer Republik veröffentlichte M. zahlreiche Erhebungen zur Lage der jüdischen Bevölkerung im Gemeindeblatt der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg. Als er am 7. Juli 1933 in Hamburg starb, beteiligten sich nur wenige an seinem Begräbnis, die Angehörigen übersiedelten nach England.

Ulrich Bauche

Melchior, Carl

Bankier, geb. 13.10.1871 Hamburg, gest. 30.12.1933 Hamburg

M.s Vater Moritz war Mitglied der Bürgerschaft und stammte in vierter Generation aus einer jüdischen Gelehrten- und Kaufmannsfamilie. Die Mutter Emilie war eine geborene Rée. M. studierte seit 1890 Rechtswissenschaft, promovierte 1893 und erwarb 1897 in Hamburg die Befähigung zum Richteramt. 1902 beantragte er seine Entlassung als Amtsrichter und ließ sich als Rechtsanwalt nieder. Noch im selben Jahr berief ihn → Max M. Warburg [11] zum Syndikus des Bankhauses M. M. Warburg. 1911 wurde M. dessen Generalbevollmächtigter, 1917 Teilhaber. In den deutsch-russischen Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk 1917/18 wurde er als Finanzberater Mitglied der deutschen Delegation. Auf Empfehlung von Max Warburg, der diese Aufgabe für sich abgelehnt hatte, wurde M. 1919 in den Friedensverhandlungen von Versailles als wirtschafts- und finanzpolitischer Vertreter einer der sechs Hauptdelegierten. Als die Alliierten unzumutbare Bedingungen stellten, empfahl er der Reichsregierung die Nichtannahme und trat von seiner Aufgabe zurück. Angebote, als Finanzminister in die Reichsregierung einzutreten, lehnte M. mit dem Hinweis auf zu befürchtende antisemitische Agitationen ab. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde M. mehrfach von staatlicher Seite beauftragt, auf zahlreichen internationalen Konferenzen die deutschen Interessen mit dem Ziel zu vertreten, Deutschland von den Reparationen des Versailler Vertrages zu entlasten. Nach dem Beitritt Deutschlands zum Völkerbund wurde M. 1926 Mitglied der Finanzkommission, 1928/29 deren Vorsitzender. 1929 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden der deutschen Delegation auf der Pariser Reparationskonferenz berufen. An den Haager Reparationskonferenzen von 1929 und 1930 nahm er als Sachverständiger teil. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten trat M. im April 1933 von allen offiziellen Ämtern zurück. M., der Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei war, gehörte der → Deutsch-Israelitischen Gemeinde [5] in Hamburg sowie dem liberalen → Tempelverband [12] an. War er in seinem Engagement zugunsten jüdischer Belange zunächst zurückhaltend gewesen, so änderte er diese Haltung mit dem politischen Aufstieg des Nationalsozialismus. 1932 gründete er den Zentralausschuss der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau mit, ein Zusammenschluss aller jüdischen Wohlfahrts- und Auswanderungsorganisationen, und übernahm zusammen mit Ludwig Tietz dessen Geschäftsführung. Der Zentralausschuss kann als einer der Vorläufer der Reichsvertretung der deutschen Juden gelten, an deren Gründung M. im September 1933, wenige Monate vor seinem Tod, ebenfalls beteiligt war. 1984 stiftete die deutsche Bundesregierung an der Hebräischen Universität Jerusalem den »Carl-Melchior-Lehrstuhl«.

Ina Lorenz

Meldola, Abraham

Kantor, Übersetzer und Notar, geb. 1754 Amsterdam, gest. 25.11.1826 Amsterdam

Der Sefarde M. absolvierte neben einem Studium an der Universität Leiden auch eine Ausbildung an der Talmudschule seiner Geburtsstadt. Seit 1772 im Hamburger Raum ansässig, war M. nicht nur als Kantor – erst in der Altonaer, seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts dann auch in der Hamburger → Portugiesisch-Jüdischen Gemeinde [13] – tätig, sondern arbeitete auch als Übersetzer (für Hebräisch, Portugiesisch und Niederländisch). Zudem wirkte er als kaiserlicher Notar in Hamburg und bekleidete damit ein öffentliches Amt, das nach der Reichsnotariatsordnung von 1512 eigentlich Christen vorbehalten war. Vermutlich waren pragmatische Gründe ausschlaggebend dafür, dass der Senat M.s Ausübung dieses Berufs stillschweigend duldete, war doch M. als Jude in besonderer Weise geeignet, den spezifischen Bedürfnissen der jüdischen Gemeinden im Rechtsleben (Errichtung von Testamenten, Eheverträgen u. Ä. m.) gerecht zu werden. M. blieb bis 1818 als Notar in Hamburg tätig, nachdem seine Stellung nicht nur 1811 während der Okkupation Hamburgs durch das französische Kaiserreich, sondern auch 1816 auf der Grundlage einer neuen städtischen Notarordnung bestätigt worden war. M. betätigte sich überdies auch als Philologe und Dichter: 1785 gab er eine portugiesische Grammatik heraus, veröffentlichte 1794 eine Lobrede auf den dänischen König (in portugiesischer, hebräischer und deutscher Sprache) und hielt 1805 die hebräische Trauerrede auf den in Hamburg verstorbenen jüdischen Aufklärer Naphtali Hartwig (Herz) Wessely. Bis 1822 war M. nachweislich noch als Übersetzer in Hamburg tätig.

Jutta Braden

Mendel, Max

Kaufmann und Senator, geb. 19.5.1872 Hamburg, gest. 10.8.1942 Theresienstadt

Seinem Erfolg als Genossenschaftskaufmann verdankte es Mendel, dass ihn die SPD für zwei Perioden in den Hamburger Senat wählen ließ.

Die Familie Mendel war seit Ende des 18. Jahrhunderts in Hamburg ansässig. Der Vater Moritz (1837-1893) betrieb Großhandel mit Steinkohlen und Sackleinen. 1886 musste Max M. das Realgymnasium des Johanneums wegen einer schweren Krankheit mit bleibender Gehbehinderung verlassen. Sein älterer Bruder Joseph, ein Privatlehrer, unterrichtete ihn und machte ihn mit der sozialistischen Ideenwelt und mit sozialdemokratischen Persönlichkeiten bekannt. Neben der Kaufmannsarbeit in der väterlichen Firma studierte M. einige Semester Ökonomie und Sozialwissenschaft in Berlin. 1900 wurde er Mitglied und Schriftführer des Aufsichtsrates des Konsum-, Bau- und Sparvereins »Produktion«, in dessen Vorstand er 1909 berufen wurde. Die von der hamburgischen Bürgerschaft 1911 beschlossene Sondersteuer für Konsumgenossenschaften konterte M. durch die Gründung einer eigenen Handelsgesellschaft »Produktion« mit dem Verkauf an jedermann. Seit 1920 war M. leitender Geschäftsführer sowohl der Genossenschaft wie der Handelsgesellschaft, mit Verflechtungen zu kommunalen und gewerkschaftlichen Unternehmen. 1921 hatte die SPD ihn wegen seiner anerkannten Wirtschaftskompetenz in die Finanzdeputation und 1925 in den Senat entsandt. Die Deutschnationale Volkspartei bediente sich im Wahlkampf 1928 des antisemitischen Bildes vom Moloch »Produktion«. Wegen seiner gemeinwirtschaftlichen Aktivitäten wurde er zudem aus den eigenen Reihen angegriffen und Ende 1928 zur Aufgabe seiner Ämter in der »Produktion« veranlasst. 1929 trat er vorzeitig von seinem Senatorenamt zurück, zusammen mit → Carl Cohn [14] von der Deutschen Demokratischen Partei als damals letzte jüdische Senatoren. Die offenbar antisemitischen Gründe dafür sind bisher nicht aufgedeckt. Dem Verlust der Ämter folgte die politische Isolierung. 1942 wurde M. in das KZ Theresienstadt deportiert.

Ulrich Bauche

Mendelssohn, Joseph

Schriftsteller, geb. 10.9. oder 4.10.1817 Jever, gest. 4.4.1856 Hamburg

Die Familie Mendelssohn stammte aus dem oberfränkischen Ort Horb am Main. Zeitweise wohnte der Vater mit den Söhnen Joseph und Salomon in Hamburg. Dort besuchten beide Kinder die → Israelitische Freischule [15], Joseph von 1823 bis 1831. In Braunschweig absolvierte er dann eine Schriftsetzerlehre bei Friedrich Vieweg, in dessen Verlag er bis 1839 als Setzer tätig war. Sein erstes schriftstellerisches Werk Blüthen. Gedichte und Novellen eines Schriftsetzers veröffentlichte er 1839 bei Julius Campe in Hamburg. Unterstützt von dem Bankier → Salomon Heine [16], lebte er von 1839 bis 1841 in Paris, wo er unter anderem seine Pariser Briefe verfasste. In ihnen schilderte er Theater, Literatur, Politik und Gesellschaft in der französischen Metropole, die ihn faszinierte, und charakterisierte Victor Hugo, Alexandre Dumas und Heinrich Heine, die er in dieser Zeit kennen gelernt hatte. 1842 verfasste er eine Biographie des beliebten Thronfolgers Ferdinand Philipp, Herzog von Orléans, der bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich war M. als Schriftsteller und Journalist in Hamburg tätig. 1844 schrieb er ein Lebensbild Salomon Heines, das kurz nach dessen Tod erschien und rasch drei Auflagen erlebte. 1845 erschien das Buch Eine Ecke Deutschlands. Reisesilhouetten, Oldenburger Bilder, Charaktere und Zustände, in dem er auch die Situation der Juden im Großherzogtum Oldenburg beschrieb. 1846 heiratete M. Radisch (Rose) Berendsohn, die Tochter des Buchhändlers und Verlegers Bernhard Salomon Berendsohn, die noch im selben Jahr im Wochenbett starb. M. arbeitete bis zu seinem Tod 1856 weiter als Journalist und Bühnenautor. Eine Gesamtwürdigung seines schriftstellerischen und journalistischen Schaffens steht noch immer aus.

Franklin Kopitzsch

Meyer-Gerstein, Senta

Publizistin, geb. 26.4.1905 Hamburg, gest. 18.3.1993 Port Orange (USA)

M., deren Eltern ein Flaggengeschäft mit einem Atelier für Handstickerei besaßen, besuchte zunächst die Israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße und anschließend das Oberlyzeum (→ Schulwesen [6]), wo sie erstmalig judenfeindliche Ausfälle erlebte. Um für ihr Judentum eintreten zu können, studierte sie an der Universität Hamburg Geschichte und Ethik des Judentums, allgemeine Geschichte, Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte. Auf der Suche nach Bündnispartnern im Kampf gegen den → Antisemitismus [17] nahm sie unter anderem Kontakt zu Franz Rosenzweig, Martin Buber und Leo Baeck auf, um zusammen das »jüdische Erbe« gegen den zunehmenden Judenhass einzusetzen. Zu diesem Zweck engagierte sie sich als Leiterin einer Arbeitsgemeinschaft zu »Deutsch-Jüdischen Grundfragen« in der Deutsch-Jüdischen-Jugend (D.J.J.), der Jugendorganisation des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Bereits früh erkannte sie die Gefahren des aufkommenden Nationalsozialismus und beriet alleinstehende Jugendliche in Fragen der → Emigration [18]. Neben diesen innerjüdischen Aktivitäten versuchte sie durch Vorträge in nichtjüdischen Kreisen dem Antisemitismus entgegenzuwirken. Bald erweiterte M. ihr Forum, indem sie in zahlreichen jüdischen Zeitschriften publizierte. Seit 1936 betrieb M. für sich selbst und ihre Familie die Emigration in die USA. Nach der Übersiedlung arbeitete sie anfänglich als Näherin in einer Fabrik. Später kehrte sie zu den kunsthandwerklichen Wurzeln ihrer Familie zurück und begründete eine Firma für Modeschmuck. Ihrem Engagement in jüdischen Belangen blieb sie auch in den USA treu: So war sie für den National Council of Jewish Women tätig und begründete einen Arbeitskreis für jüdisch-christliche Verständigung. Für ihr Engagement erhielt M. in den USA zahlreiche Auszeichnungen.

Jutta Dick

Michaelis, Herbert

Rechtsanwalt und Widerstandskämpfer, geb. 3.9.1898 Hamburg, gest. 14.6.1939 Berlin

M., Sohn eines Börsenvertreters, besuchte die → Talmud Tora Realschule [19] und die Oberrealschule in Eimsbüttel, an der er 1916 das Abitur ablegte. Von Juni 1917 bis August 1918 nahm er am Ersten Weltkrieg teil. Anschließend absolvierte er eine juristische Ausbildung und ließ sich 1928 als Rechtsanwalt in Hamburg nieder. Im Mai 1933 wurde ihm die Zulassung als Rechtsanwalt wegen seiner jüdischen Herkunft entzogen. Nachdem er den Nachweis geführt hatte, dass er »Frontkämpfer« gewesen war, wurde die Rücknahme der Zulassung auf kommunistische Betätigung gestützt: M. war seit 1924 Mitglied der KPD und hatte von 1928 bis 1930 im Auftrag der kommunistischen Hamburger Volkszeitung juristische Sprechstunden abgehalten. Von Mai 1933 bis September 1935 verbüßte M. eine Gefängnisstrafe wegen Betruges in Lübeck. Hier lernte er den Eisendreher Bruno Rieboldt und den Schlosser Dagobert Biermann kennen. Nach ihrer Haftentlassung trafen sie sich in Hamburg wieder. Rieboldt und Biermann hatten aus ihrer Arbeit bei Hamburger Werften Kenntnisse über den Bau von Flugzeugmotoren und Kriegsschiffen sowie über Waffenlieferungen an das Franco-Regime im Spanischen Bürgerkrieg. Mit Hilfe der Kontakte, über die M. zu KPD-Mitgliedern in der Schweiz verfügte, sollte das Ausland über die deutsche Aufrüstung und militärische Unterstützung Francos unterrichtet werden. Ende März 1937 wurde die Gruppe verhaftet. Durch Urteil des Volksgerichtshofs wurde M. wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens im März 1939 zum Tode verurteilt und drei Monate später in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Heiko Morisse

Milee, Erika

Tänzerin, Choreographin und Tanzpädagogin, geb. 24.12.1907 Hamburg, gest. 27.6.1996 Hamburg

Ihren ersten Tanzunterricht erhielt M. als Siebenjährige. Nach Abschluss ihrer Schulzeit und einer kaufmännischen Lehre begann sie 1926 eine Ausbildung bei Rudolf von Laban und Albrecht Knust in Berlin und Hamburg. Zwei Jahre später eröffnete sie ihre erste Milee-Schule in Hamburg an der Rothenbaumchaussee. 1930 wurde sie von Kurt Jooss als Volontärin an die Folkwangschule Essen eingeladen, wo sie in mehreren seiner berühmten Produktionen zu sehen war. 1931 kehrte sie an ihre Schule zurück. Im 1934/35 gegründeten → Jüdischen Kulturbund Hamburg [20] übernahm sie die Verantwortung für den Tanz. Gemeinsam mit ihren Schülerinnen gestaltete sie mit großem Erfolg eigene Abende, trat im Kabarett → Willi Hagens [21] auf und schuf die tänzerischen Einlagen im Schauspiel. Zukunftsorientiert engagierte sie sich für eine fundierte Ausbildung des nunmehr ausschließlich jüdischen tänzerischen Nachwuchses. Nach der vorläufigen Schließung des Hamburger Kulturbundes übersiedelte sie 1939 nach Berlin und war im dortigen Kulturbund erneut als Tänzerin und Choreographin tätig. Im Oktober 1939 verließ sie mit Hilfe einer italienischen Tanzkompanie Deutschland. Über Italien und Portugal emigrierte sie nach Paraguay und übernahm in Ascuncion die Leitung einer von ihr angeregten Tanzabteilung an der Akademie für Theater, Musik und Malerei. Neben ihrer Lehrtätigkeit hatte sie zahlreiche Auftritte. 1959 kehrte sie in ihre Heimatstadt zurück und eröffnete erneut eine Milee-Schule für klassischen und modernen Tanz, Folklore, Jazztanz und Gymnastik. 1977 war sie Mitbegründerin des Kreises Hamburger Ballettfreunde. Ihre große Liebe und Bewunderung galt John Neumeier, dessen Premieren sie niemals versäumte.

Barbara Müller-Wesemann

Mischehen / »Mischlinge«

Seit 1849 durften Hamburger Juden eine interkonfessionelle Mischehe (Me.) eingehen, sofern sie das Bürgerrecht erworben hatten.

Ab 1861 bzw. 1865 konnten dann aufgrund der Einführung der Zivilehe auch jüdische Frauen einen nichtjüdischen Partner heiraten. Jüdinnen verloren in Hamburg mit einer interkonfessionellen Heirat ihre Gemeindezugehörigkeit, Juden hingegen wurden nur aus dem orthodoxen → Synagogenverband [22] ausgeschlossen, jedoch nicht aus dem → Tempelverband [12] oder der → Neuen Dammtor Synagoge [23]. 1939/1940, als der NS-Staat Me. nicht mehr nach Konfessionen, sondern nach »Rassen« unterschied, gab es im Deutschen Reich 20.454 Me., in Hamburg lebten 1941 1.036 Me. sowie 198 verwitwete oder geschiedene Personen aus solchen Ehen.

Me., »Mischlinge ersten« wie »zweiten Grades« (»Mi.«) wurden in den ersten beiden Jahren der nationalsozialistischen Machtübernahme unterschiedslos Ziel der antijüdischen Aktionen. 1935 unterschieden die Nürnberger Gesetze zwischen »Voll-« und »Halbjuden«, wobei Letztere später in »Mi. ersten Grades« (nichtjüdische) und »Geltungsjuden« (jüdische) differenziert wurden. »Vierteljuden«, also »Mi. zweiten Grades«, unterlagen nur wenigen diskriminierenden Maßnahmen, während die »Mi. ersten Grades« unter Sondergesetzgebung leben mussten. Die »Mi. ersten Grades« wurden vom öffentlichen Dienst, von medizinischen, künstlerischen, pädagogischen und juristischen Berufen ausgeschlossen (es sei denn, eine Ausnahmegenehmigung erlaubte ihnen die Ausübung), doch sollten sie »Deutschblütigen wirtschaftlich gleichgestellt« sein, d. h., kaufmännische und technische Berufe standen ihnen offen. Universitätsabschlüsse wurden ihnen sukzessive verwehrt, 1942 mussten sie weiterführende staatliche Schulen verlassen; wollten sie heiraten, benötigten sie eine Erlaubnis, die nur in seltensten Fällen erteilt wurde. Außereheliche Verhältnisse zu nichtjüdischen Partnern, nicht per Gesetz verboten, ahndete die Gestapo mit KZ-Einweisung. Zur Wehrmacht wurden »Mi. ersten Grades« zunächst eingezogen, 1940/41 wieder entlassen. Nur bei »besonderer Tapferkeit« durften sie dort verbleiben. Ab Frühjahr 1943/Oktober 1944 wurden sie zur Organisation Todt dienstverpflichtet. Die ca. 1.000 Hamburger »Mi.« und Ehemänner von Jüdinnen konnten – im Unterschied zum sonstigen Deutschen Reich – in der Heimatstadt verbleiben, wo sie vor allem Trümmer räumten und die zerstörte Infrastruktur wiederherstellten.

Die Nürnberger Gesetze verboten die Schließung weiterer Me., änderten für die bestehenden jedoch noch nichts. Im Dezember 1938 dann stellten die NS-Machthaber die Me. besser als »volljüdische« Paare und differenzierten zwischen »privilegierten« und »nichtprivilegierten« Ehepaaren. Als »privilegiert« galten Paare (auch kinderlose), wenn die Frau jüdisch war oder wenn christlich erzogene Kinder vorhanden waren. Diese Familien konnten in ihren Wohnungen verbleiben, das Vermögen auf den nichtjüdischen Teil überschreiben, und der jüdische Partner musste den »Judenstern« nicht tragen. »Nichtprivilegiert« waren Ehen mit einem jüdischen Ehemann, die kinderlos waren, solche mit jüdisch erzogenen Kindern oder solche, deren nichtjüdischer Teil zum Judentum konvertiert war. Sie mussten in → »Judenhäuser« [24] ziehen, ihr Vermögen wurde gesperrt, sie wurden bei Auswanderung als jüdisches Paar behandelt. → Zwangsarbeit [25] mussten auch in Me. lebende Juden leisten. Auf der Wannsee- und Folgekonferenzen 1942/43 wurde u. a. die Einbeziehung der Me. (Alternative: Zwangsscheidung oder → Deportation [26]) und »Mi.« (Zwangssterilisation oder Deportation) in den Judenmord erörtert, eine Entscheidung jedoch »bis Kriegsende« zurückgestellt. Ab Sommer 1942 führte die Auflösung einer Me. zur Deportation ins »Vorzugslager« Theresienstadt, es sei denn, ein minderjähriges Kind war zu versorgen. Ehepaare beider Kategorien erhielten 1942/43 Einweisungen in »Judenhäuser«. Ab Oktober 1944 mussten die nichtjüdischen Ehemänner Zwangsarbeit leisten. Anfang 1945 entfiel der Schutz durch eine Me., und die Deportation nach Theresienstadt wurde verfügt. Obwohl die Besserstellung der Me. nie gesetzlich fixiert wurde und jederzeit durch die Kriminalisierung des jüdischen Partners aufgehoben werden konnte, überlebten viele Betroffene aufgrund dieses Status: Bei Kriegsende gab es noch ca. 12.000 Me. in Deutschland, davon in Hamburg 631.

Beate Meyer

Musik

Als synagogale M. wird die liturgische Musik im jüdischen Gottesdienst bezeichnet, die Ausdruck von Religion und Kultur des Judentums ist. Sie begleitet und reflektiert die Entwicklung der jüdischen Gemeinde von einer vorwiegend religiösen Gemeinschaft im 19. Jahrhundert zu einer verstärkt sozialen, kulturellen und ethnischen Institution im frühen 20. Jahrhundert.

Mit den Reformen des Hamburger → Tempelvereins [12] im Jahr 1817 begannen tiefgreifende Veränderungen in der Synagogalmusik, die viele Gemeinden beeinflussen sollten. Nach dem Vorbild der portugiesischen Gemeinde in Livorno wurden mit der Einweihung des Tempels an der Brunnenstraße (12) 1818 Choralgesang und Instrumentalmusik in die Hamburger jüdische Gemeinde (→ DIG [5]) eingeführt. Die Einführung der Orgel löste erbitterte Kämpfe und Diskussionen aus, die in mehreren Gutachtensammlungen ihren Niederschlag fanden. Die Orgelgegner argumentierten mit dem Verbot, am Schabbat und den Feiertagen ein Instrument zu spielen; darüber hinaus bestand für sie das generelle Verbot von M. in der Synagoge als Zeichen der Trauer um den Verlust des Tempels sowie das Verbot der Nachahmung fremder Gottesverehrung. Die Orgelgegner sahen in der Einführung der Orgel eine Verchristlichung des Gottesdienstes und damit einen Traditions- und Identitätsverlust des Judentums. Die Orgelbefürworter argumentierten, dass das Orgelspiel, wenn es durch einen Nichtjuden geschehe, erlaubt sei. Darüber hinaus sei schon früher Instrumentalmusik in der Synagoge gebraucht worden. Letztlich sei die Orgel kein explizit christliches Instrument. Die Organisten am Tempel waren zunächst nichtjüdisch: Bethuel (1818-1828), G. D. Demuth (1829-1837), A. F. Schinck (1837-1870), A. Dellith (1870-1906) und Caesar Stallmann (1906-1934). Seit 1934 waren die Organisten dann jüdischer Herkunft: Von 1934 bis 1935 Hermann Feiner und von 1935 bis 1938 Hermann Cerini. Die Anstellung jüdischer Organisten ging einher mit einer Wende, die sich um 1900 vollzog, als die erste jüdische Organistengeneration ausgebildet wurde. Um 1933 gab es schließlich eine Anzahl ausgezeichneter jüdischer Organisten. Zur gleichen Zeit durften christliche Musiker aufgrund der nationalsozialistischen Gesetzgebung nicht mehr in jüdischen Institutionen arbeiten. Die Orgel diente der Begleitung des zweistimmigen Knabenchores – bei besonderen Anlässen sang ein gemischter Laienchor – und der deutschsprachigen Gemeindegesänge, die überwiegend protestantischen Chorälen nachempfunden waren. 19 Gesänge wurden von nichtjüdischen Musikern vertont, die 1818 als Religiöse Lieder und Gesänge für Israeliten im Druck erschienen. Eine Reihe von erweiterten Auflagen folgte zwischen 1821 und 1880 mit Melodien u. a. von Albert Gottlieb Methfessel (1785-1869), der bis 1832 am Reformtempel als Chorleiter tätig war. 14 Titel waren Aufzeichnungen portugiesisch-jüdischer Melodien nach David Meldola, der im Oktober 1818 als Kantor angestellt worden war. Die Anstellung eines ausgerechnet orthodoxen, sefardischen Chasans scheint paradox, wollte die Reformgemeinde doch mit alten Traditionen brechen. In der portugiesisch-jüdischen Musiktradition verwurzelt (→ Portugiesisch-Jüd. Gemeinde [13]), brachte Meldola traditionelle sefardische Melodien ein und setzte außerdem die sefardische Aussprache der Gesänge durch. Ganze Teile des Festtagsrepertoires wurden aus der sefardischen Tradition übernommen und am Tempel gepflegt. Nachdem Meldola den Tempel 1859 verließ, übernahm der portugiesische Kantor → Joseph Piza [27] bis 1879 das Amt. Mit der Anstellung von → Moritz Henle [28] von 1879 bis 1913 begann eine Zeit des Übergangs. Henle versuchte, den Gottesdienst mehr und mehr nach aschkenasischer Tradition auszurichten, ohne jedoch das portugiesisch-jüdische Melodiengut ganz zu verwerfen. Im Jahr 1887 publizierte er eine Edition mit allen portugiesischen Melodien, die im Hamburger Tempel gesungen wurden. Sein Nachfolger → Leon Kornitzer [29] vollendete die von Henle eingeleiteten Veränderungen und stellte die M. am Tempel vollkommen in die aschkenasische Tradition. Während der Reformtempel verschiedene Elemente jüdischer Musikkultur verarbeitete, wurde der orthodoxe → Synagogenverband [22] in Hamburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts Schauplatz des »Goldenen Zeitalters der Chasanut«, einer Zeit, in der Kantoren auf virtuose Weise traditionelle liturgische Gesänge darboten. Mit der Einweihung der Synagoge am → Bornplatz [30] (50) 1906 wurde einer der führenden Kantoren der Zeit, Yossele Rosenblatt, als Oberkantor engagiert. Zusammen mit zwei weiteren Kantoren und einem Knaben- und Männerchor machte Rosenblatt bis zum Ende seiner Amtszeit im Jahr 1912 Hamburg zu einem wichtigen Zentrum für synagogale M. Die Gründung des → Jüdischen Kulturbundes [20] in Hamburg 1935 hatte ungeahnte Folgen für die M. Sie führte zu einer substantiellen Bereicherung des Repertoires vor allem im Bereich der synagogalen M. und die teilweise daran anknüpfenden Werke zeitgenössischer jüdischer Komponisten. Synagogale M. stand auf dem Programm zahlreicher Veranstaltungen des Kulturbundes, dargeboten vom Chor des Tempels in der Oberstraße (53), Hermann Cerini und Leon Kornitzer. Die Blütezeit synagogaler M. war dennoch nur von kurzer Dauer. Durch die Zerstörung der Synagogen in der Reichspogromnacht (→ Novemberpogrom [31]) und die erzwungene Auflösung des Kulturbundes verlor die synagogale M. in Hamburg ihren Ort.

Tina Frühauf

Mussaphia, Binjamin

(auch: Dionys Mussaphia), Mediziner und Schriftsteller, geb. ca. 1600/1606 Spanien, gest. 11.12.1674 Amsterdam

Mitglieder der wohl aus Spanien stammenden Familie M. erlangten im 17. und 18. Jahrhundert einflussreiche Stellungen in Hamburg und am gottorfschen Hof. Nach dem Studium der Medizin in Padua, das er 1625 mit der Promotion abschloss, ließ sich M. in Hamburg nieder. Seit 1635 war der Arzt, polyglotte Schriftsteller, Lexikologe, Avisenschreiber und Alchimist für den gottorfschen Hof tätig. Als bedeutendes Handels- und Wirtschaftszentrum bot ihm Hamburg viele Möglichkeiten, wertvolle Nachrichten an den Hof zu liefern. Seine religionskritischen Schriften erregten immer wieder Aufsehen. Nach der Veröffentlichung des Werkes Sacro-Medicae sententiae toto V[etere] T[estamento], das die Lutheraner als blasphemisch einschätzten, musste M. die Hansestadt für einige Wochen verlassen. M. hatte in seiner Schrift biblische Passagen zusammengetragen, die sich auf medizinische Angelegenheiten bezogen, was in den Augen der Lutheraner eine unstatthafte Vermischung von Medizin und Theologie darstellte. Ferner kritisierten sie, dass M. seinen Ausführungen ein jüdisches Gebet vorangestellt und die jungfräuliche Geburt Jesu geleugnet hatte. M.s Schrift forderte nicht nur die Hamburger Lutheraner zu einer umfangreichen Protestschrift an den Rat heraus, sondern veranlasste den Geistlichen Johannes Müller auch, sich in dem Buch Judaismus seinerseits kritisch mit den Juden zu befassen. Im Juli 1640 musste M. aufgrund einer Beschwerde der Geistlichkeit Hamburg endgültig verlassen. Von → Glückstadt [32] begab er sich nach Amsterdam, wo er Mitglied des Rabbinatskollegiums, zeitweiliger Vorsteher der Portugiesengemeinde und verschiedener Gemeindeinstitutionen wurde.

Michael Studemund-Halévy

Müller-Hartmann, Robert

Komponist, Musikwissenschaftler und Musikpädagoge, geb. 11.10.1884 Hamburg, gest. 15.12.1950 Dorking (England)

M. absolvierte ein Studium am Stern’schen Konservatorium in Hamburg sowie bei Eduard Behm in Berlin. Anschließend unterrichtete er an verschiedenen Hamburger Konservatorien das Fach Theorie. Ab 1923 war er Dozent für Harmonie- und Kompositionslehre an der Universität Hamburg. Bereits 1924 übertrug der Hamburger Rundfunk viele seiner Kompositionen, darunter auch seine Schauspielmusik zu Büchners Leonce und Lena. 1930 schrieb M. für die Nordische Rundfunk AG die Musik zu Eduard Stuckens Gawân. Auch wurde er vom Senat der Hansestadt beauftragt, für die Feier zum zehnjährigen Bestehen der Weimarer Verfassung eine musikalische Einleitung zu komponieren. Nach einer Selbstanzeige wegen »nichtarischer Abstammung« wurde M. im Mai 1933 aus dem Hochschuldienst entlassen. Bis 1937 unterrichtete er an der jüdischen Mädchenschule Karolinenstraße (89) (→ Schulwesen [6]), wo er die Schülerinnen u. a. Hindemiths Singspiel Wir bauen eine Stadt aufführen ließ. Darüber hinaus leitete er mehrere Arbeitsgemeinschaften im Rahmen der → Franz-Rosenzweig-Gedächtnisstiftung [8]. Im → Jüdischen Kulturbund [20], dem er sich mit großem Engagement angeschlossen hatte, war er als Beirat für das Musikprogramm verantwortlich, schrieb in dessen Monatsblättern Einführungen zu den jeweils anstehenden Konzerten und hielt Vorträge. Auch seine eigenen Werke wurden in diesem Rahmen des Öfteren aufgeführt. 1938 emigrierte er mit seiner Frau und seiner Tochter nach England, während sich seine beiden Söhne für Palästina entschieden (→ Emigration [18]). In London wurde M. Mitglied des Freien Deutschen Kulturbundes, gab Privatunterricht und war als Musikschriftsteller tätig.

Barbara Müller-Wesemann

Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Beim Schlump 83, 20144 Hamburg
Mehr Informationen: www.igdj-hh.de


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Verweise:
[1] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/zionismus
[2] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/wiedergutmachung
[3] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/j%C3%BCdische-gemeinde-1945-1989
[4] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/gesellschaft-f%C3%BCr-christlich-j%C3%BCdische-zusammenarbeit-hamburg
[5] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/deutsch-israelitische-gemeinde-dig
[6] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/schul-und-erziehungswesen
[7] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/j%C3%BCdische-bibliothek-und-lesehalle
[8] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/franz-rosenzweig-ged%C3%A4chtnisstiftung
[9] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/beerdigungswesen
[10] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/logenwesen
[11] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/warburg-max-m
[12] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/tempel-neuer-israelitischer-nit
[13] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/portugiesisch-j%C3%BCdische-gemeinden-sefarden
[14] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/cohn-karl-johann
[15] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/israelitische-freischule
[16] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/heine-salomon
[17] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/antisemitismus
[18] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/emigration
[19] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/talmud-tora-schule-ttr
[20] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/j%C3%BCdischer-kulturbund-hamburg
[21] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/hagen-willi-0
[22] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/synagogenverband-deutsch-israelitischer
[23] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/neue-dammtor-synagoge-47
[24] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/%C2%BBjudenh%C3%A4user%C2%AB
[25] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/zwangsarbeit-hamburg
[26] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/deportationen
[27] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/piza-joseph-de-mose
[28] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/henle-moritz
[29] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/kornitzer-leon
[30] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/bornplatzsynagoge-50
[31] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/novemberpogrom
[32] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/gl%C3%BCckstadt