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A wie Auswanderung

Personen und Themen mit A

Abas, Semuel de Isaac

Gelehrter, Schriftsteller und Gemeindefunktionär, geb. nach 1634 Hamburg, Glückstadt oder Amsterdam, gest. 23.11.1691 Hamburg

A. stammte aus einer bekannten, in Nordeuropa ansässigen und Anfang des 17. Jahrhunderts vom deutschen Kaiser geadelten portugiesischen Kaufmannsfamilie, deren Name ursprünglich Diaz Jorge lautete. Nach einem Studium der Theologie in Amsterdam kehrte A. vor 1660 nach Hamburg zurück, wo er wiederholt in hohe Gemeindeämter der Portugiesengemeinde Bet Israel gewählt wurde. 1666 beauftragte ihn seine Gemeinde, nach Konstantinopel zu reisen, um dort dem selbst ernannten Messias Sabbatai Zwi die »schuldige Huldigung darzubringen«. Aus ungeklärten Gründen fand diese Reise jedoch nicht statt. A.s große Gelehrsamkeit sowie seine bedeutende Bibliothek mit zahlreichen Werken zur Konvertitenproblematik zogen zahlreiche christliche Theologen an. In Hamburg übersetzte A. das populäre Buch der Herzenspflichten von Bahya Ibn Paquda ins Portugiesische, um die »Frömmigkeit unter den portugiesischen Juden zu festigen«. Die Übersetzung, die erstmals 1670 gedruckt wurde, fand große Anerkennung bei den Amsterdamer und Hamburger Rabbinern. 1665 übertrug er die antichristliche Abhandlung Keset Ieonatan (1600) des holländischen Konvertiten Jonathan Guer alias Jan Richen aus Hoorn aus dem Holländischen ins Portugiesische. Nach seinem Tode erschien 1693 der Auktionskatalog seiner berühmten Bibliothek: Catalogus Variorum atque Insignium in quavis Facultate & Lingua, Librorum. Dieses umfangreiche Verzeichnis enthält 1.136 Titel in hebräischer, lateinischer, spanischer, portugiesischer, französischer, holländischer und deutscher Sprache. Auffällig sind besonders die vielen medizinischen Bücher sowie die große Anzahl von Büchern weltlicher Literatur (Romane, Gedichte, Theaterstücke).

Michael Studemund-Halévy

Abudiente, Mose Gideon

Rabbiner, Philologe und Dichter, geb. ca. 1610 Amsterdam oder Lissabon, gest. 4.3.1688 Hamburg

Der zeitweilige Sabbatianer A. gehörte zu den produktivsten und einflussreichsten Autoren der Hamburger Portugiesen im 17. Jahrhundert. Nach einem theologischen Studium in Amsterdam wirkte er 1624 an der Aufführung des von seinem späteren Schwiegervater Reuel Jessurun verfassten Dialogs der Sieben Berge (Dialogo dos 7 Montes) mit. Der mit Sara Jessurun verheiratete A. lebte als Rabbiner und Privatgelehrter in → Glückstadt [1] und in Hamburg. In der Hansestadt veröffentlichte er 1633 eine in portugiesischer Sprache verfasste Grammatik der hebräischen Sprache, in der das Kapitel über das Dichten in mehreren Sprachen besonders bemerkenswert ist, da einige in diesem Kapitel behandelte Vorschriften in seinen Hamburger Epitaphien Verwendung fanden. 1652 unterzeichnete A. die Gründungsvereinbarung der → Portugiesisch-Jüdischen Gemeinde [2] Bet Israel, die ihm in den folgenden Jahren immer wieder wichtige Gemeindeämter übertrug. Auf dem Höhepunkt der Krise um den selbsternannten Messias Sabbatai Zwi (1666) verfasste er in Glückstadt in spanischer Sprache die Predigtsammlung Fin de los Dias (Vom Ende aller Tage), die »über die in den Propheten verkündete Endzeit handelt« und der innergemeindlichen Zensur zum Opfer fiel. Der Vorstand der Portugiesengemeinde, der einen Konflikt mit der lutherischen Geistlichkeit befürchtete, ordnete unverzüglich an, das Buch einzuziehen. Fin de los Dias kann als eines der ersten durch Subskription verlegten Bücher in Deutschland gelten. Abudiente erwarb sich weiterhin einen Namen als Verfasser zahlreicher Epitaphien sowie kunstvoll-gelehrter Gedichte in hebräischer Sprache, von denen einige erst ein Jahrhundert nach seinem Tode in der Zeitschrift der jüdischen Aufklärung HaMe’assef veröffentlicht wurden.

Michael Studemund-Halévy

Adler, Friedrich

Adler, Friedrich [3]

Maler, Kunstgewerbler, Innenarchitekt, geb. 29.4.1878 Laupheim, gest. 11.7.1942 Auschwitz

Nach Studien und Lehrtätigkeit in München erhielt A. 1907 einen Ruf an die Kunstgewerbeschule Hamburg für Ornamentik, Naturstudien und Entwurf. Im selben Jahr heiratete er Bertha Haymann, mit der er fünf Kinder hatte. Zwei weitere Kinder gingen aus einer 1920 geschlossenen Ehe hervor. In seinem vielseitigen Œuvre präsentierte sich A. als hervorragender Raumkünstler von sprühender Farbigkeit, der seine ornamentalen Motive aus der Natur entwickelte. Zunächst zum Jugendstil neigend, wandte er sich später dem Art déco zu. A. entwarf zahlreiche Gebrauchsgegenstände wie Möbel, Textilien, Keramik, Glas, Silber, Geschirr und Schmuck, gestaltete aber auch jüdisches Kultgerät, Epitaphe sowie eine Synagoge für die 1914 veranstaltete Werkbundausstellung in Köln. 1927 zum Professor ernannt, wurde A. im April 1933 aus dem Hochschuldienst entlassen. Seine Unterrichtstätigkeit setzte er in der Gemeinde fort, wo Paula Marx, Eva Meile, Lotte Lamm, Ruth Fischer zu seinen Schülerinnen gehörten. Seit 1935 engagierte sich A. zudem im → Jüdischen Kulturbund [4]. Auslandsreisen führten ihn unter anderem nach Holland, Zypern und Palästina. Seine Bemühungen um ein Visum in die USA erwiesen sich jedoch als vergeblich. Im Juli 1942 wurde er nach Auschwitz deportiert, wo er wenig später ermordet wurde.

Maike Bruhns

Amulettenstreit

Amulettenstreit [5]

Der Privatgelehrte → Jakob Emden [6], Sohn des Altonaer Oberrabbiners → Zwi Aschkenasi [7], bezichtigte im Februar 1751 den neuen Oberrabbiner → Jonathan Eibeschütz [8] der Ketzerei.

Zum Beweis führte er ein angebliches Manuskript Eibeschütz’ aus dessen Prager Jugendzeit an sowie die Beschriftung einiger Amulette, die Wöchnerinnen nach jüdischem Volksbrauch von ihm erbeten hatten. Emden behauptete, die Texte wiesen Eibeschütz als geheimen Anhänger des Pseudomessias Sabbatai Zwi aus. Emden verfiel zwar als Folge seiner Anklage dem Bann der → Dreigemeinde [9], fand jedoch Unterstützung bei auswärtigen Rabbinern insbesondere in Deutschland, während sein Kontrahent das polnische Rabbinat zu mobilisieren wusste. Aufgrund von Gutachten christlicher Hebraisten fällten die für Altona zuständigen dänischen Gerichte am 6. November 1752 das Urteil, eine Anklage Eibeschütz’ sei anhand der Indizien nicht zu rechtfertigen. Ähnlich entschied im Folgejahr die Vierländersynode der polnischen Juden, woraufhin die Rabbiner der Emden-Partei einen Schlichtungsaufruf erließen. Diese Affäre zum Vorwand nehmend, kündigte der Hamburger Senat jedoch im August 1753 den Altonaer Rabbinatsverband (→ Rabbinat [10]) auf, der erst nach dreijährigen jüdischen wie dänischen Protesten wiederhergestellt wurde. Die Geschichtsschreibung hat die Anklage gegen Eibeschütz meist als Verleumdung eines Neiders behandelt, einzelne Historiker wie Heinrich Graetz oder Gershom Scholem haben ihr aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit zuerkannt.

Carsten Wilke

Antisemitismus

Der Begriff A. ist von einem Wortführer der »antisemitischen Bewegung«, die in den späten 1870er Jahren im Zusammenhang mit der antiliberalen Wende der deutschen Innenpolitik aufkam, von dem Hamburger Publizisten Wilhelm Marr (1819-1904), geprägt worden, um den angeblich fundamentalen, essentiellen und damit unüberwindbaren und für die Deutschen gefährlichen Gegensatz zwischen Juden und Nichtjuden (»Arier«, »Germanen«, »Deutsche«) auszudrücken.

Marr gründete in Hamburg 1879 die »Antisemiten-Liga« und veröffentlichte sein Pamphlet Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Marr trat zunächst als radikaler Demokrat in der Revolution 1848 in Erscheinung. Später entfernte er sich von den Demokraten, bis er 1862 mit seiner Schrift Der Judenspiegel als Gegner der → Emanzipation [11] hervortrat. Hamburg spielte seitdem im Auf und Ab der antisemitischen Szene eine bedeutende Rolle.

Obwohl als politischer Kampfbegriff im Munde eines rabiaten »Antisemiten« entstanden, bürgerte sich das Wort A. schnell ein und wird heute international als ein seriöser Terminus politischer und wissenschaftlicher Diskussion benutzt. A. findet sich in vielen Gesellschaften Europas und Amerikas.

Gewöhnlich wird der »moderne« A. von einem traditionellen Antijudaismus abgesetzt. Antijudaismus kennzeichnet im Unterschied zum »rassischen« A. die vornehmlich religiös begründete feindselige Abgrenzung christlicher Gesellschaften gegen Juden, sowohl in Form stereotypisierter theologischer Kritik an der jüdischen Lehre als auch in Form eines vulgären Judenhasses. Trotz dieser begrifflichen Unterscheidung bleiben Kontinuitäten erkennbar. Denn die religiös begründeten judenfeindlichen Verdächtigungen gingen nicht unter, sondern setzten sich in transformierter Form, angepasst an jeweilige gesellschaftliche und politische Umstände, fort.

Während die typologische Differenzierung zwischen Antijudaismus und A. weithin anerkannt wird, ist die Datierung des Übergangs strittig. Am häufigsten werden die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts genannt. Demgegenüber ist nachgewiesen worden, dass die »Fremdheit« der Juden schon in frühneuzeitlichen Jahrhunderten auch mit »Abstammung« begründet wurde. Insbesondere seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert finden sich in Pamphleten alle Stereotypen des Judenbilds aus der antisemitischen Debatte der siebziger Jahre einschließlich der Vertreibungs- und Vernichtungsphantasien, so dass für diesen Zeitraum von »Frühantisemitismus« gesprochen wird. Nur kurze Zeit nach der Reichsgründung und dem gesetzlichen Abschluss der Emanzipation der Juden häuften sich dann erneut judenfeindliche Schriften. Die darin geführte Sprache verwandte das Vokabular der neuen biologistischen Anthropologie und Rassentheorie. Die Autoren distanzierten sich von der traditionellen Judenfeindschaft und richteten ihre Angriffe vornehmlich gegen die assimilierten Juden.

Zusammenfassend wird der A. als eine ideologische Antwort auf Modernitätskrisen gedeutet und damit als Phänomen der Moderne zugeordnet. Die drei wichtigsten Forschungshypothesen zielen übereinstimmend auf die ideologische Funktion des A. seit der Epochenschwelle um 1800:

1. A. fungierte als Abwehrreaktion gegen die Emanzipation und die Emanzipationsdebatte im Zeitalter der Aufklärung. In den folgenden Jahrzehnten löste jede Maßnahme zur bürgerlichen Gleichstellung antisemitische Pamphlete, lokale Proteste, Unruhen und → Ausschreitungen [12] aus, denen die Vorstellung zugrunde lag, dass die Juden als »Fremde« keine Partizipationsrechte in der bürgerlichen Staatsgesellschaft beanspruchen dürften und ihre Mitwirkung für die bürgerliche Gemeinschaft sogar schädlich sei. Die allgemein anerkannte Lehre vom »christlichen Staat« legitimierte den Ausschluss der Juden von hohen Ämtern in Staat und Gesellschaft. Nach 1933 gehörte die Rücknahme der bürgerlichen Rechtsgleichheit zu den ersten judenfeindlichen Maßnahmen.

2. A. fungierte als Abwehrreaktion gegen die gesellschaftliche und kulturelle Moderne. Der durch liberalisierende Reformen und die sozioökonomische Entwicklung erzeugte gesamtgesellschaftliche Wandel löste bei dessen scheinbaren oder tatsächlichen Verlierern eine Suche nach den Verursachern aus. Die jüdische Minderheit gehörte zu den Gewinnern der Modernisierung: Sie erlebte einen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg in und im Zusammenhang mit der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft und konnte zum Symbol der Modernisierung stilisiert werden. Kritik am Kapitalismus, Liberalismus und Sozialismus bediente sich antijüdischer Stereotypen und codierte die Kritik an der jüdischen Minderheit mit den Schlüsselbegriffen Börse und Banken, Liberalismus und Internationalismus. Mit diesem »kulturellen Code« hetzten die Nationalsozialisten gegen die Juden: Kampf gegen das »Weimarer System«, die »Novemberverbrecher« und den »Bolschewismus«.

3. Erst in jüngster Zeit wird die Funktion des A. für die Konstruktion einer deutschen »Nation« hervorgehoben. Mangels eindeutiger empirischer Definitionskriterien besaß der Glaube an eine Abstammungsgemeinschaft von Anfang an große Bedeutung. »Volk« und »Abstammung« naturalisierten oder ethnisierten die Nationsvorstellung, längst bevor Rassentheorien populär wurden. Aus der Abstammungsgemeinschaft blieben Juden prinzipiell ausgeschlossen, so dass sich das bis heute geläufige, sozial- und verfassungsgeschichtlich unsinnige Gegensatzpaar »Deutsche und Juden« etablieren konnte. Gegenüber dieser ethnischen Nationsvorstellung wurde das liberale Modell einer Staatsbürgergesellschaft nach 1871 durch den neudeutschen Reichsnationalismus zurückgedrängt. Der nationale A., das Konstrukt »Nation« durch Ausschluss der Juden, erwies sich als politisch folgenreichste Form des A., weil das Bekenntnis zur Nation zum höchsten Wert aufstieg und dadurch mögliche Gegenkräfte von vornherein schwächte. Das nationale Trauma der Niederlage im Ersten Weltkrieg steigerte die politische Brisanz der Verbindung von Nationalismus und A. Nutznießer wurden die Nationalsozialisten, die mit ihrer Politik der fortschreitenden Ausgrenzung der Juden aus der »Reichsnation« auf dem nationalen A. aufbauen konnten.

Während A. als ideologisches Konstrukt deutliche Züge von Kontinuität im 19. und 20. Jahrhundert aufweist, zeigen sich in der Geschichte »antisemitischer Bewegungen« Brüche. Denn das Konstrukt A. wurde von verschiedenen sozialen Trägergruppen aufgenommen, in politischen Konjunkturen benutzt oder mit Ereignissen verknüpft. In der »Berliner Bewegung« der späten siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts äußerte sich zum einen ein vom akademischen Bürgertum (Heinrich von Treitschke) getragener nationaler A., der die Juden aufforderte, endlich ganz und vollständig Deutsche zu werden, gleichzeitig aber bezweifelte, ob die Integration der »Fremdlinge« für die deutsche Nation segensreich wäre (»Berliner A.streit«). Zum anderen zeigte sich in kleinbürgerlichen Schichten eine christlich-soziale Motivation gegen die gesellschaftliche und kulturelle Modernisierung. Mit Adolf Stoeckers Christlich-Sozialer Arbeiterpartei (1878) und zahlreichen Nachfolgern setzte eine politische Instrumentalisierung des A. ein, die sich in den achtziger Jahren auch in ländlichen Regionen ausbreitete: 1893 saßen 16 Abgeordnete antisemitischer Parteien im Reichstag. In Hamburg mit seiner breiten mittelständischen Sozialstruktur fand die christlich-soziale Bewegung Stoeckers große Resonanz. 1890/91 entstand hier ein »Antisemitischer Wahlverein« zur Unterstützung antisemitischer Kandidaten. Reichstagsmandate waren in der Hochburg der Sozialdemokratie zwar nicht zu gewinnen, aber Mandate für die Bürgerschaft: Erster Vertreter des Wahlvereins war 1897 der »Porzellanmaler« Friedrich Raab (1859-1917). Dieser agitierte seit 1892 für den Ausschluss von Juden und propagierte die -»Vernichtung des Judentums«. Er war außer in den wechselnden antisemitischen Splitterparteien in der Hamburger Ortsgruppe des Alldeutschen Verbands, im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband (DHV) und, um ein Reichstagsmandat zu gewinnen, im Bund der Landwirte aktiv. Der DHV, 1893 mit Sitz in Hamburg gegründet, schloss von Anfang an »Abstammungsjuden« von der Mitgliedschaft aus und entwickelte sich schnell zur mitgliederstärksten berufsständischen Vertretung für Angestellte. Vorsitzender des DHV bis 1907 war der Antisemit Wilhelm Schack (1869-1949). Leiter der Geschäftsstelle und zugleich Redakteur in der Verbandszeitschrift Deutsche Handelswacht wurde 1900 der Antisemit Alfred Roth (1879-1948). Roth sicherte die personelle Kontinuität der antisemitischen Bewegung in die Weimarer Republik hinein: seit 1912 im antisemitischen Reichshammerbund (Sitz in Hamburg), 1919 als Hauptgeschäftsführer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes (Sitz in Hamburg).

Die Ubiquität antisemitischer Einstellungen im späten Kaiserreich zeigt sich nicht nur an der Übernahme von »Arierparagraphen« in immer mehr Organisationen und Verbänden, vom DHV über Turnvereine und Jugendgruppen bis zu studentischen Korporationen, sondern auch an dem schweren Stand, den Initiativen zur Abwehr des A. im wilhelminischen Deutschland hatten: der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (1893) und der linksliberale Verein zur Abwehr des A. (1890). Deren Strategien, gegen antisemitische Verunglimpfung auf dem Rechtswege vorzugehen oder die Leistungen von Juden im deutschen Kulturleben zu dokumentieren, wurden von Antisemiten zu weiteren Schmähungen benutzt.

Eine zweite »antisemitische Bewegung« erhob sich mit dem Schwinden der Illusion eines überwältigenden Sieges im Ersten Weltkrieg. Im Herbst 1916 veranlasste der preußische Kriegsminister eine so genannte Judenzählung im deutschen Heer, hinter der der Vorwurf jüdischer Drückebergerei stand. In Hamburg publizierte der Antisemit Alfred Roth 1919 unautorisierte Zahlen der nicht veröffentlichten Erhebung. Antisemitische Nationalideologie drang in der Weltkriegsbelletristik vor, in Hamburg zum Beispiel durch die Erzählerin Charlotte Niese (1851-1935).

Die »antisemitische Bewegung« flaute nach Kriegsende nicht ab. Sie kulminierte anfangs im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, wurde nach dessen Verbot (1922) von der NSDAP, aber auch von zahlreichen völkischen Verbänden weitergetragen. An der 1919 gegründeten Hamburgischen Universität agitierten von Anfang an antisemitische studentische Organisationen gegen einzelne jüdische Professoren. Schon zum Sommersemester 1933 erzwang der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) die Beurlaubung jüdischer Gelehrter. Im Nationalclub, einem Treffpunkt Hamburger Honoratioren und Überseekaufleute, war A. salonfähig.

Nach dem 30. Januar 1933 begann sofort und sukzessive der Ausschluss der Juden aus der deutschen »Volksgemeinschaft«, der im Zweiten Weltkrieg mit → Deportationen [13] und systematischer Ermordung in → Konzentrations- und Vernichtungslagern [14] endete. Die in Hamburg lange gepflegte Annahme, hier seien Entrechtung, Enteignung durch → »Arisierung [15]«, erzwungene → Emigration [16] und Verfolgung vergleichsweise später und milder verlaufen, hat sich durch die regionale Forschung als Legende erwiesen. Auch in Hamburg wurde die antijüdische Politik nicht nur reichsgesetzlich erzwungen, sondern auch in regionaler Verantwortung und von der Bevölkerung akzeptiert betrieben. Mit dem Jahr 1933 ist eine deutliche Zäsur in der Geschichte des A. zu setzen. Denn mit der Ermächtigung zur nationalsozialistischen Diktatur avancierte der A. zur Staatsideologie. Schrittweise wurde politisch realisiert, was an Ausschließungs- und Vernichtungsphantasien in den vielen Jahrzehnten zuvor gedanklich entworfen worden war. Der Unterschied zwischen Theorie und sozialer Praxis ist angesichts des Mordes an vielen Millionen Menschen gravierend. Dennoch würde ein enger, auf den nationalsozialistischen Genozid und dessen direkter Vorgeschichte bezogener Begriff von A. die lange Kontinuität antisemitischer Entwicklung vor 1933 verharmlosen und Erklärungsmöglichkeiten für den Genozid abschneiden.

Der Völkermord hat die Geschichte des A. nicht beendet. Nach 1945 entstand ein »sekundärer A.«, dessen Ursachen in »Scham und Schuldabwehr« (Wolfgang Benz) gegen die Opfer der Schoa zu suchen sind. Der »sekundäre A.« manifestiert sich in Taten rechtsradikaler, nationalistischer Gruppen. Verbreiteter tritt er allerdings in latenter Form auf als stiller Vorbehalt, gerauntes Vorurteil oder wortloses Einvernehmen über ein Feindbild. Gespeist wird der »sekundäre A.« auch durch den Antizionismus, der infolge des israelisch-palästinensischen Konfliktes die Feindschaft gegen Israel ideologisch begründet.

Barbara Vogel

Archiv der Jüdischen Gemeinde

Das Archivgut der jüdischen Gemeinden ist in großem Umfang erhalten und dokumentiert ihre Geschichte vom 17. Jahrhundert bis in die NS-Zeit.

Aus ältester Zeit stammen Dokumente der sefardischen Gemeinde und der bis 1812 in der → Dreigemeinde [9] vereinten aschkenasischen Gemeinden von Hamburg, Altona und Wandsbek. Die Protokolle des für Schleswig-Holsteins Provinzialgemeinden zuständigen Altonaer Rabbinatsgerichts (→ Gerichtsbarkeit [17]) sind ab 1768 erhalten. Die Archivalien der → Deutsch-Israelitischen Gemeinde [18] in Hamburg, der → Hochdeutschen Israelitengemeinde in Altona [19] und der Jüdischen Gemeinden in → Wandsbek [20] und → Harburg [21] umfassen den Zeitraum 1812 bis 1937. Das Schriftgut der Kultusverbände ist allerdings nahezu völlig verloren; auch wurden die nach 1933 entstandenen Gemeindeakten durch einen Luftangriff 1943 weitgehend vernichtet. Dennoch ist der große Umfang des Archivguts der Hamburger jüdischen Gemeinden im Vergleich mit anderen jüdischen Großgemeinden Deutschlands ein glücklicher Sonderfall. Seit den zwanziger Jahren entwickelten Vorstandsmitglieder der Deutsch-Israelitischen Gemeinde unterschiedliche Pläne zur Erfassung, Erschließung und zentralen Verwahrung der Dokumente jüdischer Gemeinden Hamburgs. Der → Novemberpogrom [22] 1938 setzte diesen Bestrebungen ein Ende; die Gestapo beschlagnahmte das Archiv, beließ es jedoch in Hamburg und stimmte seiner Überführung in das Stadtarchiv zu. Die Bemühungen des → Jüdischen Religionsverbandes [23] und des Rechtsanwalts Hans W. Hertz um den Verbleib in Hamburg hatten Erfolg. In den fünfziger Jahren wurde das Archivgut von Jacob Jacobson unter der Mitarbeit von Hans W. Hertz grundlegend verzeichnet und zum Archivbestand »Jüdische Gemeinden« formiert; Jacobson transkribierte außerdem die hebräisch geführten Geburts- und Sterberegister. Seit Anfang der fünfziger Jahre bemühten sich die Jewish Historical General Archives (die heutigen Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem), das gerettete Archivgut zu übernehmen. 1959 wurde ein Vergleich getroffen, der eine Aufteilung des Bestandes zwischen dem Jerusalemer Archiv und dem Hamburger Staatsarchiv vorsah. Beide Archive erhielten Mikrofilme von den Archivalien, die ihnen nicht im Original zugesprochen wurden. Die Jüdische Gemeinde in Hamburg hat dem Staatsarchiv auch Archivgut aus der Zeit nach 1945 als Depositum übergeben. Ergänzt durch das im Staatsarchiv verwahrte staatliche Schriftgut zur Geschichte der Juden in Hamburg steht der Forschung mit dem Bestand »Jüdische Gemeinden« eine reichhaltige Quellenbasis zur Verfügung.

Jürgen Sielemann

Arisierung

Als A. bezeichnete man nach 1933 im engeren Sinne den Besitztransfer zwischen »Juden« und »Ariern«, im weiteren Sinne den Prozess der wirtschaftlichen Verdrängung und Existenzvernichtung der Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft.

Als einer der größten Besitzwechsel der neueren Hamburger Geschichte wurden bis 1939 ca. 1.500 »jüdische« Unternehmen freiwillig oder gezwungenermaßen liquidiert oder an »arische« Erwerber verkauft. Im Rahmen der A. von Grundstücken wechselten in Hamburg Hunderte von Liegenschaften den Besitzer oder wurden unter Zwangsverwaltung gestellt.

Nach dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 vollzog sich die Verdrängung jüdischer Unternehmen in Hamburg durchweg langsamer als andernorts. Bis Anfang 1938 wurden lediglich 20-30 Prozent (reichsweit mehr als 50 Prozent) der jüdischen Unternehmen verkauft oder von ihren Besitzern aufgegeben. Für die größere Beharrungskraft jüdischer Unternehmen in Hamburg waren drei Faktoren maßgeblich: Die Anonymität der Großstadt Hamburg, in der antijüdische Boykotte nur schwer durchzuführen und zu kontrollieren waren, die Leistungskraft der Jüdischen Gemeinde und ihrer Hilfsorganisationen sowie die anfängliche taktische Zurückhaltung der lokalen NS-Machthaber, die die schwierige Wirtschaftslage Hamburgs, das offiziell zum Notstandsgebiet erklärt worden war, nicht unnötig verschärfen wollten.

Während die A. und Liquidierung jüdischer Unternehmen bis 1938 nur zögernd in Gang kam, glich sie seit 1938/39 einem regelrechten Bereicherungswettlauf. Allein Anfang Dezember 1938 wurden rund 200 jüdische Einzelhandelsgeschäfte geschlossen. Um die verbleibenden 100 Geschäfte hatten sich mehr als 1.800 Personen beworben. Handlungsspielräume jüdischer Eigentümer, von denen viele nach dem → Novemberpogrom [22] verhaftet und in KZ eingeliefert worden waren, waren Ende 1938 praktisch nicht mehr vorhanden. Dementsprechend wurde den Besitzern nur ein Bruchteil des tatsächlichen Unternehmenswertes vergütet. Auch hatten jüdische Unternehmer nur in wenigen Ausnahmefällen einen marktüblichen Preis erzielen können, weil ihnen seit 1935 der immaterielle Firmenwert nicht mehr vergütet wurde, also der Wert, der sich aus der Marktposition, dem Kundenstamm, der Produktpalette, dem Ansehen und den Absatzwegen eines Unternehmens zusammensetzte. Zahlreiche traditionsreiche jüdische Unternehmen Hamburgs fielen der A. zum Opfer, darunter die Bank → M. M. Warburg & Co. [24], die Köhlbrand-Werft Paul Berendsohn, die Reederei Arnold Bernstein, die Fair-play Schleppdampfschiffs-Reederei Richard Borchardt, die Textilfabrik Rappolt & Söhne oder das Kaufhaus Tietz, das 1935 zum »Alsterhaus« wurde.

Parallel zur Liquidierung von Unternehmen forcierten die Finanzbehörden einen finanziellen Enteignungsprozess der jüdischen Besitzer durch Steuern (u. a. »Reichsfluchtsteuer«) und Zwangsabgaben (»Judenvermögensabgabe«, Auswanderungsabgabe), die im Falle der → Emigration [16] zu einer nahezu vollständigen Ausplünderung führten. Seit 1936/37 erließ die Devisenstelle der Oberfinanzdirektion Hamburg verstärkt »Sicherungsanordnungen« für die Konten und den Besitz der Hamburger Juden, die nur mit behördlicher Genehmigung über ihre Vermögenswerte verfügen konnten. Bis November 1939 wurden in Hamburg 1.372 dieser Sicherungsanordnungen erlassen. Die elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 bildete schließlich die Grundlage für die Konfiszierung des Vermögens der emigrierten bzw. seit Oktober 1941 deportierten Hamburger Juden, deren bewegliche Habe dann an die nichtjüdische Bevölkerung Hamburgs öffentlich versteigert wurde.

Frank Bajohr

Arno (auch: Aron), Siegfried

Arno, Siegfried [25]

Schauspieler und Komiker, geb. 27.12.1895 Hamburg, gest. 17.8.1975 Woodland Hills (USA)

Im späten Weimarer Kino war der hagere und hyperaktive A. ein gefeierter Komiker. Nach der Schule durchlief A. eine Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Hamburg, danach war er vorübergehend als Modezeichner tätig. Sein erstes Bühnenengagement erfolgte am Stadttheater Harburg, dann am Operettenhaus. Nach dem Ersten Weltkrieg spielte er an Theatern in Hamburg, Altona und Prag. In Berlin, wo er seit 1921 auftrat, gewann er als Schauspieler, Sänger, Tänzer und exzentrischer Komiker rasch an Popularität. Ab Mitte der zwanziger Jahre feierte A. Erfolge auch im Film: Er verkörperte durchweg »Underdog«-Rollen, die durch ihn bisweilen ins Absurde getrieben wurden. Mit dem großen, massigen Kurt Gerron bildete der schmale, schlaksige A. mit der langen Nase wiederholt ein Komiker-Team; als »Beef und Steak« versuchten sie (vergeblich), eine Tradition deutscher Film-Grotesken zu entwickeln. Mit komischen Nebenrollen belebte A. zudem einige Film-Klassiker von G. W. Pabst. Anfang der dreißiger Jahre war er wiederholt auch in Hauptrollen zu sehen. Nach der Saison 1932/33 im Kabarett der Komiker wurde er von den Nazis in die → Emigration [16] getrieben. In den Gastländern Holland, Belgien, Schweiz, Italien, Spanien, Portugal machte er Kabarett, Theater sowie einzelne Filme. 1939 schließlich gelangte er nach Hollywood, wo er sich aber mit Engagements als Nebendarsteller begnügen musste. Nebenher arbeitete A. auch als Zeichner und Porträtist und spielte Theater am Broadway, 1954/55 spielte er am Deutschen Theater New York. Gastspiele führten ihn nach Buenos Aires und in die Bundesrepublik – unter anderem auch nach Hamburg. 1966 erhielt er das Filmband in Gold für langjähriges und hervorragendes Wirken im deutschen Film.

Hans-Michael Bock

Aschkenasi, Zwi Hirsch ben Jacob

Aschkenasi, Zwi Hirsch ben Jacob [26]

(auch: Chacham Zwi), Rabbiner und Talmudist, geb. 1660 (?) Mähren, gest. 3.5.1718 Lemberg

In Ofen (Ungarn) studierte A. zunächst an der Talmudhochschule seines Großvaters. Längere Aufenthalte in Saloniki und Belgrad zwischen 1676 und 1679 eröffneten ihm die Gelegenheit, sich mit den religiösen Bräuchen und Formen der sefardischen Juden vertraut zu machen. Mit dem Ehrentitel eines Chacham versehen, ließ er sich wiederum in Ofen nieder und verheiratete sich dort. Nach dem gewaltsamen Tod seiner ersten Frau und seiner Tochter während der Belagerung der Stadt 1686 flüchtete A. nach Sarajewo, wo ihn die sefardische Gemeinde als ihren Rabbiner bestimmte. Über Venedig, Prag und Berlin gelangte er 1689 nach Altona. Dort ehelichte er die Tochter des Salman Mirels Neumark, der als Rabbiner der → Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek [9] amtierte. Viele Jahre leitete A. ein von wohlhabenden Gemeindemitgliedern eingerichtetes jüdisches Lehrhaus (Klaus), bis er 1706 – gemeinsam mit Moses Rothenburg – zum Nachfolger seines Schwiegervaters ernannt wurde. Meinungsverschiedenheiten mit seinem Amtskollegen veranlassten ihn jedoch schon bald zur Niederlegung seines Amtes. 1710 kehrte er Altona den Rücken, als ihm die aschkenasische Gemeinde in Amsterdam das Oberrabbinat antrug. Dort erschien 1712 ein Teil seiner Rechtsgutachten im Druck, die ihn als einen der herausragenden Kenner des jüdischen Religionsgesetzes auswiesen. Im Streit mit der lokalen sefardischen Gemeinde, der sich an der Frage sabbatianischer Schriften entzündete, wurde A. jedoch 1714 zum Rücktritt gezwungen. Nach einem Aufenthalt in London begab er sich 1717 nach Lemberg (Polen), wo er erneut ein Rabbineramt übernahm, das er bis zu seinem Tod ausübte.

Andreas Brämer

Ausschreitungen, antijüdische

Die Präsenz einer namhaften jüdischen Bevölkerungsminderheit im Hamburger Raum geriet zum exemplarischen Konfliktthema zwischen lutherischer Orthodoxie und pragmatischer Politik, war ein wichtiger Gegenstand im Widerstreit hamburgischer und dänischer Machtansprüche und erwies sich als geeignetes Ventil für die Austragung politischer und sozialer Konflikte innerhalb der Stadt.

Gewalttätige Übergriffe werden in den Denkwürdigkeiten der → Glikl von Hameln [27] als alltägliche Erfahrung der Hamburger Juden des 17. Jahrhunderts geschildert. Wiederholt mündeten solche Zusammenstöße in gravierende antijüdische Ausschreitungen. So entstand 1730 in der → Neustadt [28] aus nichtigem Anlass ein »Judentumult« (»Geseroth Henkelpöttche«), der erst nach Tagen unterdrückt werden konnte; in Altona wurden 1749 durch den »Pöbel« die Häuser mehrerer Juden geplündert und die Fenster der Synagoge zerstört.

Die unter dem Vorzeichen verbreiteter Judenfeindschaft leicht zu mobilisierende Gewalt der Straße ließ sich auch zur Durchsetzung politischer Ziele einsetzen. Wiederholt waren Versuche erfolgreich, auf diese Weise rechtlich-politische Zugeständnisse an die jüdische Minderheit zu verhindern und eine restriktive »Judenpolitik« durchzusetzen. So erzwang 1746 eine gewalttätige »Menge allerhand gemeinen Gesindels« den Abbruch eines neu errichteten jüdischen Bethauses in der Neustadt. Im 19. Jahrhundert wurde Hamburg mehrfach zum Schauplatz schwerer antijüdischer Unruhen, die in erster Linie ein Ausdruck vehementer Ablehnung der Judenemanzipation (→ Emanzipation [11]) waren. Die antijüdischen »Hepp-Hepp-Krawalle«, die im Sommer 1819 weite Teile Deutschlands erschütterten, nahmen in Hamburg ihren Ausgang von den Pavillons an der Binnenalster, aus denen jüdische Gäste allabendlich gewaltsam vertrieben wurden. Der Kaffeehausbesuch von Juden war in der Hansestadt mehrfach zum Gegenstand erregter öffentlicher Debatten geworden und stand für den Anspruch der jüdischen Minderheit auf Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft. Auch die Wohnhäuser einiger wohlhabender jüdischer Familien am Rödingsmarkt, an der Neustädter Fuhlentwiete und auf der Großen Bleiche, die gleichfalls gezielt angegriffen wurden, versinnbildlichten die Überschreitung gesetzter Grenzen, da sie außerhalb der den Juden zugewiesenen Straßenzüge lagen. Nachdem die Angreifer bei jüdischen Kaffeehausbesuchern auf organisierte Gegenwehr getroffen waren, mündeten die Angriffe in schwere Ausschreitungen und Plünderungen in den von Juden bewohnten Straßen, die schließlich durch das Bürgermilitär unterdrückt wurden. Die außerhalb der »erlaubten« Straßen bezogenen Wohnungen mussten von den Juden allerdings bald nach der Niederschlagung der Krawalle geräumt werden. Auch die »vergessene« Revolution des Jahres 1830 wurde in Hamburg von antijüdischen Ausschreitungen eingeleitet. Sie nahmen erneut ihren Ausgang bei den Pavillons und in den von Juden bewohnten Straßen, schlugen jedoch bald in allgemeine Unruhen um, die sich vor allem gegen Polizei und Militär richteten, mehrere Todesopfer forderten und erst nach Tagen mühsam unterdrückt werden konnten. Im Sommer 1835 kam es in Hamburg erneut zu Krawallen bei den Alsterpavillons. Wieder wurden allabendlich jüdische Gäste unter Misshandlungen aus den Kaffeehäusern vertrieben; die Behörden schritten äußerst zögerlich ein und ahndeten die »Ordnungswidrigkeit« von Juden, die sich verteidigt hatten, härter als die Gewalttaten ihrer Angreifer. Der Ausbruch der Krawalle wurde als Reaktion auf eine damals in Aussicht genommene Reform der Hamburger Judengesetzgebung aufgefasst, die allerdings nach den Krawallen wieder aufgegeben wurde, noch ehe sie konkrete Gestalt angenommen hatte.

Stefan Rohrbacher

Auswanderung

(siehe auch → Emigration [16]) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann der Hamburger Hafen wachsende Bedeutung für den Transit von Auswanderern nach Übersee.

Zwischen 1850 und 1934 registrierten die Hamburger Behörden annähernd fünf Millionen Auswanderer. Über 80 Prozent gingen in dieser Zeit in die USA, die übrigen hatten Süd- und Mittelamerika, Kanada, Afrika, Australien und asiatische Länder zum Ziel. Zwischen 1881 und 1914 traten nahezu eine Million Juden aus Russland, Österreich-Ungarn und Rumänien die Seereise im Hamburger Hafen an. Den stärksten Anteil hatten jüdische Auswanderer aus den russischen Territorien; ihre Zahl wird mit über 700.000 angegeben. Der Exodus der russischen Juden setzte 1881 mit dem Beginn der Herrschaft von Zar Alexander III. ein, als Pogrome und antijüdische Gesetze eine anhaltende Massenflucht auslösten. Armut und Diskriminierung motivierten auch viele Juden in Galizien und Rumänien zum Verlassen ihrer Heimat. Amerikas Ruf als freiheitliches Land der unbegrenzten Möglichkeiten und die Werbekampagnen der Schifffahrtsgesellschaften taten ein Übriges, um den osteuropäischen Auswandererstrom nicht versiegen zu lassen. Als 1881 rund 10.000 mittellose russische Emigranten eintrafen, reagierte die Hamburger Jüdische Gemeinde mit der Gründung des Hilfskomitees für die russischen Juden. Der 1884 gegründete Israelitische Unterstützungsverein für Obdachlose half den nichtrussischen jüdischen Auswanderern. → Daniel Wormser [29] stellte sich ab 1884 ganz in den Dienst der mittellosen jüdischen Emigranten und galt in Hamburg alsbald als »Vater der Auswanderer«. Die Geschichte der Massenauswanderung über den Hamburger Hafen ist zudem untrennbar mit dem Namen → Albert Ballin [30] verbunden. Er vergrößerte und modernisierte die Hapag-Flotte der Auswandererschiffe, erwirkte in Verhandlungen mit konkurrierenden Schifffahrtsgesellschaften des In- und Auslands oft einen Interessenausgleich und machte das Unternehmen zur größten Schifffahrtsgesellschaft der Welt. Die Hamburger Regierung nahm gegenüber dem gewaltigen Strom der osteuropäischen Auswanderer eine ambivalente Haltung ein. Der wirtschaftliche Ertrag des Auswandererverkehrs wurde begrüßt, nicht aber die Anwesenheit der zumeist armen Menschen in der Stadt. Hinzu kam die Furcht vor der Einschleppung von Epidemien. 1892 begegnete Ballin den Besorgnissen des Senats mit der Errichtung eines großen Barackenlagers auf dem Amerika-Kai. Die russischen Auswanderer wurden mit der Eisenbahn direkt dorthin gebracht und durften die Stadt nicht betreten. Als im selben Jahr in Hamburg die Cholera ausbrach und rund 10.000 Einwohner an der Epidemie starben, wurde die Auswanderung über den Hafen für längere Zeit unterbunden. Gemeinsam mit dem Bremischen Lloyd ließ Ballin daraufhin an der deutsch-russischen Grenze Kontrollstationen errichten, in denen die eintreffenden Auswanderer ab 1895 ärztlich untersucht, zum Kauf von Schiffsfahrkarten und zur Weiterfahrt nach Hamburg oder Bremen veranlasst wurden. Gänzlich mittellose Menschen durften die Kontrollstationen nicht passieren. An die Stelle des Barackenlagers auf dem Amerika-Kai trat 1901 eine weit größere Massenunterkunft: die sog. Auswandererhallen auf der Veddel. Die Anlage war durch die Süderelbe vom Stadtgebiet getrennt und bot zunächst Platz für 1.000, ab 1906 für 3.000 Personen. Den jüdischen Auswanderern standen eine Synagoge und ein eigener Speisesaal zur Verfügung. Nach 1918 verlor Hamburg als Auswandererhafen stark an Bedeutung; bis 1933 wurden hier noch 500.000 Auswanderer registriert.

Jürgen Sielemann

Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Beim Schlump 83, 20144 Hamburg
Mehr Informationen: www.igdj-hh.de


Quellen-URL (abgerufen am 09.05.2025 - 10:34): https://dasjuedischehamburg.de/node/66

Verweise:
[1] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/gl%C3%BCckstadt
[2] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/portugiesisch-j%C3%BCdische-gemeinden-sefarden
[3] https://dasjuedischehamburg.de/bilder/adler-friedrich
[4] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/j%C3%BCdischer-kulturbund-hamburg
[5] https://dasjuedischehamburg.de/bilder/amulettenstreit
[6] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/emden-jakob-israel-ben-zwi
[7] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/aschkenasi-zwi-hirsch-ben-jacob
[8] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/eibesch%C3%BCtz-auch-eibensch%C3%BCtz-eybesch%C3%BCtz-eybensch%C3%BCtz-jonathan
[9] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/dreigemeinde-ahw-ahu
[10] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/rabbinat
[11] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/emanzipation
[12] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/ausschreitungen-antij%C3%BCdische
[13] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/deportationen
[14] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/konzentrationslager-hamburg
[15] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/arisierung
[16] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/emigration
[17] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/gerichtsbarkeit-j%C3%BCdische
[18] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/deutsch-israelitische-gemeinde-dig
[19] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/hochdeutsche-israelitengemeinde-zu-altona-hig
[20] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/wandsbek-j%C3%BCdische-gemeinde
[21] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/harburg-wilhelmsburg-synagogengemeinde
[22] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/novemberpogrom
[23] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/j%C3%BCdischer-religionsverband-hamburg
[24] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/warburg-max-m
[25] https://dasjuedischehamburg.de/bilder/arno-siegfried
[26] https://dasjuedischehamburg.de/bilder/aschkenasi-zwi-hirsch-ben-jacob
[27] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/gl%C3%BCckel-von-hameln
[28] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/neustadt
[29] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/wormser-daniel
[30] http://www.dasjuedischehamburg.de/inhalt/ballin-albert