Antisemitismus

Der Begriff A. ist von einem Wortführer der »antisemitischen Bewegung«, die in den späten 1870er Jahren im Zusammenhang mit der antiliberalen Wende der deutschen Innenpolitik aufkam, von dem Hamburger Publizisten Wilhelm Marr (1819-1904), geprägt worden, um den angeblich fundamentalen, essentiellen und damit unüberwindbaren und für die Deutschen gefährlichen Gegensatz zwischen Juden und Nichtjuden (»Arier«, »Germanen«, »Deutsche«) auszudrücken.

Marr gründete in Hamburg 1879 die »Antisemiten-Liga« und veröffentlichte sein Pamphlet Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Marr trat zunächst als radikaler Demokrat in der Revolution 1848 in Erscheinung. Später entfernte er sich von den Demokraten, bis er 1862 mit seiner Schrift Der Judenspiegel als Gegner der Emanzipation hervortrat. Hamburg spielte seitdem im Auf und Ab der antisemitischen Szene eine bedeutende Rolle.

Obwohl als politischer Kampfbegriff im Munde eines rabiaten »Antisemiten« entstanden, bürgerte sich das Wort A. schnell ein und wird heute international als ein seriöser Terminus politischer und wissenschaftlicher Diskussion benutzt. A. findet sich in vielen Gesellschaften Europas und Amerikas.

Gewöhnlich wird der »moderne« A. von einem traditionellen Antijudaismus abgesetzt. Antijudaismus kennzeichnet im Unterschied zum »rassischen« A. die vornehmlich religiös begründete feindselige Abgrenzung christlicher Gesellschaften gegen Juden, sowohl in Form stereotypisierter theologischer Kritik an der jüdischen Lehre als auch in Form eines vulgären Judenhasses. Trotz dieser begrifflichen Unterscheidung bleiben Kontinuitäten erkennbar. Denn die religiös begründeten judenfeindlichen Verdächtigungen gingen nicht unter, sondern setzten sich in transformierter Form, angepasst an jeweilige gesellschaftliche und politische Umstände, fort.

Während die typologische Differenzierung zwischen Antijudaismus und A. weithin anerkannt wird, ist die Datierung des Übergangs strittig. Am häufigsten werden die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts genannt. Demgegenüber ist nachgewiesen worden, dass die »Fremdheit« der Juden schon in frühneuzeitlichen Jahrhunderten auch mit »Abstammung« begründet wurde. Insbesondere seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert finden sich in Pamphleten alle Stereotypen des Judenbilds aus der antisemitischen Debatte der siebziger Jahre einschließlich der Vertreibungs- und Vernichtungsphantasien, so dass für diesen Zeitraum von »Frühantisemitismus« gesprochen wird. Nur kurze Zeit nach der Reichsgründung und dem gesetzlichen Abschluss der Emanzipation der Juden häuften sich dann erneut judenfeindliche Schriften. Die darin geführte Sprache verwandte das Vokabular der neuen biologistischen Anthropologie und Rassentheorie. Die Autoren distanzierten sich von der traditionellen Judenfeindschaft und richteten ihre Angriffe vornehmlich gegen die assimilierten Juden.

Zusammenfassend wird der A. als eine ideologische Antwort auf Modernitätskrisen gedeutet und damit als Phänomen der Moderne zugeordnet. Die drei wichtigsten Forschungshypothesen zielen übereinstimmend auf die ideologische Funktion des A. seit der Epochenschwelle um 1800:

1. A. fungierte als Abwehrreaktion gegen die Emanzipation und die Emanzipationsdebatte im Zeitalter der Aufklärung. In den folgenden Jahrzehnten löste jede Maßnahme zur bürgerlichen Gleichstellung antisemitische Pamphlete, lokale Proteste, Unruhen und Ausschreitungen aus, denen die Vorstellung zugrunde lag, dass die Juden als »Fremde« keine Partizipationsrechte in der bürgerlichen Staatsgesellschaft beanspruchen dürften und ihre Mitwirkung für die bürgerliche Gemeinschaft sogar schädlich sei. Die allgemein anerkannte Lehre vom »christlichen Staat« legitimierte den Ausschluss der Juden von hohen Ämtern in Staat und Gesellschaft. Nach 1933 gehörte die Rücknahme der bürgerlichen Rechtsgleichheit zu den ersten judenfeindlichen Maßnahmen.

2. A. fungierte als Abwehrreaktion gegen die gesellschaftliche und kulturelle Moderne. Der durch liberalisierende Reformen und die sozioökonomische Entwicklung erzeugte gesamtgesellschaftliche Wandel löste bei dessen scheinbaren oder tatsächlichen Verlierern eine Suche nach den Verursachern aus. Die jüdische Minderheit gehörte zu den Gewinnern der Modernisierung: Sie erlebte einen sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg in und im Zusammenhang mit der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft und konnte zum Symbol der Modernisierung stilisiert werden. Kritik am Kapitalismus, Liberalismus und Sozialismus bediente sich antijüdischer Stereotypen und codierte die Kritik an der jüdischen Minderheit mit den Schlüsselbegriffen Börse und Banken, Liberalismus und Internationalismus. Mit diesem »kulturellen Code« hetzten die Nationalsozialisten gegen die Juden: Kampf gegen das »Weimarer System«, die »Novemberverbrecher« und den »Bolschewismus«.

3. Erst in jüngster Zeit wird die Funktion des A. für die Konstruktion einer deutschen »Nation« hervorgehoben. Mangels eindeutiger empirischer Definitionskriterien besaß der Glaube an eine Abstammungsgemeinschaft von Anfang an große Bedeutung. »Volk« und »Abstammung« naturalisierten oder ethnisierten die Nationsvorstellung, längst bevor Rassentheorien populär wurden. Aus der Abstammungsgemeinschaft blieben Juden prinzipiell ausgeschlossen, so dass sich das bis heute geläufige, sozial- und verfassungsgeschichtlich unsinnige Gegensatzpaar »Deutsche und Juden« etablieren konnte. Gegenüber dieser ethnischen Nationsvorstellung wurde das liberale Modell einer Staatsbürgergesellschaft nach 1871 durch den neudeutschen Reichsnationalismus zurückgedrängt. Der nationale A., das Konstrukt »Nation« durch Ausschluss der Juden, erwies sich als politisch folgenreichste Form des A., weil das Bekenntnis zur Nation zum höchsten Wert aufstieg und dadurch mögliche Gegenkräfte von vornherein schwächte. Das nationale Trauma der Niederlage im Ersten Weltkrieg steigerte die politische Brisanz der Verbindung von Nationalismus und A. Nutznießer wurden die Nationalsozialisten, die mit ihrer Politik der fortschreitenden Ausgrenzung der Juden aus der »Reichsnation« auf dem nationalen A. aufbauen konnten.

Während A. als ideologisches Konstrukt deutliche Züge von Kontinuität im 19. und 20. Jahrhundert aufweist, zeigen sich in der Geschichte »antisemitischer Bewegungen« Brüche. Denn das Konstrukt A. wurde von verschiedenen sozialen Trägergruppen aufgenommen, in politischen Konjunkturen benutzt oder mit Ereignissen verknüpft. In der »Berliner Bewegung« der späten siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts äußerte sich zum einen ein vom akademischen Bürgertum (Heinrich von Treitschke) getragener nationaler A., der die Juden aufforderte, endlich ganz und vollständig Deutsche zu werden, gleichzeitig aber bezweifelte, ob die Integration der »Fremdlinge« für die deutsche Nation segensreich wäre (»Berliner A.streit«). Zum anderen zeigte sich in kleinbürgerlichen Schichten eine christlich-soziale Motivation gegen die gesellschaftliche und kulturelle Modernisierung. Mit Adolf Stoeckers Christlich-Sozialer Arbeiterpartei (1878) und zahlreichen Nachfolgern setzte eine politische Instrumentalisierung des A. ein, die sich in den achtziger Jahren auch in ländlichen Regionen ausbreitete: 1893 saßen 16 Abgeordnete antisemitischer Parteien im Reichstag. In Hamburg mit seiner breiten mittelständischen Sozialstruktur fand die christlich-soziale Bewegung Stoeckers große Resonanz. 1890/91 entstand hier ein »Antisemitischer Wahlverein« zur Unterstützung antisemitischer Kandidaten. Reichstagsmandate waren in der Hochburg der Sozialdemokratie zwar nicht zu gewinnen, aber Mandate für die Bürgerschaft: Erster Vertreter des Wahlvereins war 1897 der »Porzellanmaler« Friedrich Raab (1859-1917). Dieser agitierte seit 1892 für den Ausschluss von Juden und propagierte die -»Vernichtung des Judentums«. Er war außer in den wechselnden antisemitischen Splitterparteien in der Hamburger Ortsgruppe des Alldeutschen Verbands, im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband (DHV) und, um ein Reichstagsmandat zu gewinnen, im Bund der Landwirte aktiv. Der DHV, 1893 mit Sitz in Hamburg gegründet, schloss von Anfang an »Abstammungsjuden« von der Mitgliedschaft aus und entwickelte sich schnell zur mitgliederstärksten berufsständischen Vertretung für Angestellte. Vorsitzender des DHV bis 1907 war der Antisemit Wilhelm Schack (1869-1949). Leiter der Geschäftsstelle und zugleich Redakteur in der Verbandszeitschrift Deutsche Handelswacht wurde 1900 der Antisemit Alfred Roth (1879-1948). Roth sicherte die personelle Kontinuität der antisemitischen Bewegung in die Weimarer Republik hinein: seit 1912 im antisemitischen Reichshammerbund (Sitz in Hamburg), 1919 als Hauptgeschäftsführer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes (Sitz in Hamburg).

Die Ubiquität antisemitischer Einstellungen im späten Kaiserreich zeigt sich nicht nur an der Übernahme von »Arierparagraphen« in immer mehr Organisationen und Verbänden, vom DHV über Turnvereine und Jugendgruppen bis zu studentischen Korporationen, sondern auch an dem schweren Stand, den Initiativen zur Abwehr des A. im wilhelminischen Deutschland hatten: der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (1893) und der linksliberale Verein zur Abwehr des A. (1890). Deren Strategien, gegen antisemitische Verunglimpfung auf dem Rechtswege vorzugehen oder die Leistungen von Juden im deutschen Kulturleben zu dokumentieren, wurden von Antisemiten zu weiteren Schmähungen benutzt.

Eine zweite »antisemitische Bewegung« erhob sich mit dem Schwinden der Illusion eines überwältigenden Sieges im Ersten Weltkrieg. Im Herbst 1916 veranlasste der preußische Kriegsminister eine so genannte Judenzählung im deutschen Heer, hinter der der Vorwurf jüdischer Drückebergerei stand. In Hamburg publizierte der Antisemit Alfred Roth 1919 unautorisierte Zahlen der nicht veröffentlichten Erhebung. Antisemitische Nationalideologie drang in der Weltkriegsbelletristik vor, in Hamburg zum Beispiel durch die Erzählerin Charlotte Niese (1851-1935).

Die »antisemitische Bewegung« flaute nach Kriegsende nicht ab. Sie kulminierte anfangs im Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, wurde nach dessen Verbot (1922) von der NSDAP, aber auch von zahlreichen völkischen Verbänden weitergetragen. An der 1919 gegründeten Hamburgischen Universität agitierten von Anfang an antisemitische studentische Organisationen gegen einzelne jüdische Professoren. Schon zum Sommersemester 1933 erzwang der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) die Beurlaubung jüdischer Gelehrter. Im Nationalclub, einem Treffpunkt Hamburger Honoratioren und Überseekaufleute, war A. salonfähig.

Nach dem 30. Januar 1933 begann sofort und sukzessive der Ausschluss der Juden aus der deutschen »Volksgemeinschaft«, der im Zweiten Weltkrieg mit Deportationen und systematischer Ermordung in Konzentrations- und Vernichtungslagern endete. Die in Hamburg lange gepflegte Annahme, hier seien Entrechtung, Enteignung durch »Arisierung«, erzwungene Emigration und Verfolgung vergleichsweise später und milder verlaufen, hat sich durch die regionale Forschung als Legende erwiesen. Auch in Hamburg wurde die antijüdische Politik nicht nur reichsgesetzlich erzwungen, sondern auch in regionaler Verantwortung und von der Bevölkerung akzeptiert betrieben. Mit dem Jahr 1933 ist eine deutliche Zäsur in der Geschichte des A. zu setzen. Denn mit der Ermächtigung zur nationalsozialistischen Diktatur avancierte der A. zur Staatsideologie. Schrittweise wurde politisch realisiert, was an Ausschließungs- und Vernichtungsphantasien in den vielen Jahrzehnten zuvor gedanklich entworfen worden war. Der Unterschied zwischen Theorie und sozialer Praxis ist angesichts des Mordes an vielen Millionen Menschen gravierend. Dennoch würde ein enger, auf den nationalsozialistischen Genozid und dessen direkter Vorgeschichte bezogener Begriff von A. die lange Kontinuität antisemitischer Entwicklung vor 1933 verharmlosen und Erklärungsmöglichkeiten für den Genozid abschneiden.

Der Völkermord hat die Geschichte des A. nicht beendet. Nach 1945 entstand ein »sekundärer A.«, dessen Ursachen in »Scham und Schuldabwehr« (Wolfgang Benz) gegen die Opfer der Schoa zu suchen sind. Der »sekundäre A.« manifestiert sich in Taten rechtsradikaler, nationalistischer Gruppen. Verbreiteter tritt er allerdings in latenter Form auf als stiller Vorbehalt, gerauntes Vorurteil oder wortloses Einvernehmen über ein Feindbild. Gespeist wird der »sekundäre A.« auch durch den Antizionismus, der infolge des israelisch-palästinensischen Konfliktes die Feindschaft gegen Israel ideologisch begründet.

Barbara Vogel