Novemberpogrom

Die Legende, die »Reichskristallnacht« sei in Hamburg ohne größere Schäden verlaufen, weil Gauleiter Kaufmann den Pogrom verboten habe, beruht auf dessen Falschaussagen als Zeuge vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1946. Tatsächlich ging der Pogrom nach demselben Muster vonstatten wie andernorts.

Am 10. November 1938 rückten frühmorgens SA-Kommandos aus, um die Geschäfte von Juden zu demolieren und mit Parolen zu beschmieren. Zerstörungen und Plünderungen geschahen in der Innenstadt und in vielen anderen Stadtteilen Hamburgs. Die genaue Zahl der geschändeten Synagogen und kleineren Betsäle ist bis heute unaufgeklärt; betroffen waren mindestens fünf, möglicherweise auch neun jüdische Sakralgebäude, darunter die Hamburger Hauptsynagoge am Bornplatz (50), die Neue Dammtor Synagoge (47), die Synagoge des Tempelverbandes (53) und die Alte und Neue Klaus (49). Am 10. November wurde die Leichenhalle der Synagogengemeinde Harburg-Wilhelmsburg völlig niedergebrannt. Brandanschläge richteten sich am selben Tag auch gegen die Harburger Synagoge (127). Auch nach der am Abend des 10. November von Propagandaminister Goebbels verkündeten Aufforderung, »von allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum« sofort abzusehen, waren die Ausschreitungen, Demütigungen und Misshandlungen jüdischer Bürger nicht beendet. Noch am übernächsten Tag legten Brandstifter erneut ein Feuer in der Hauptsynagoge. Wie viele jüdische Männer die Hamburger Gestapo in den Pogromtagen verhaftet und in ein auswärtiges KZ gebracht hat, bleibt angesichts sehr unterschiedlicher Angaben ungewiss. Auszugehen ist mindestens von über 1.000 Verschleppten. Zwischen dem 10. und 15. November wurden nachweislich 873 Juden in das Hamburger Polizeigefängnis Fuhlsbüttel ( Konzentrationslager) eingeliefert; andere hatte die Gestapo im Stadthaus inhaftiert, bevor sie in Eisenbahntransporten den Weg in das KZ Sachsenhausen antreten mussten. Am 10. November drangen zwei Kriminalbeamte in die Wohnung des Musikers Martin Cobliner ein, um ihn zu verhaften. Cobliner stürzte aus dem Fenster in den Tod. Ob es andere Todesopfer des Pogroms in Hamburg gab, ist ungeklärt. Die in den Pogromtagen verhafteten Männer wurden erst nach Wochen und Monaten schwerer Misshandlungen aus dem KZ entlassen. Der N. löste in der jüdischen Bevölkerung Hamburgs eine Massenflucht ins Ausland aus. Für diejenigen, denen der Weg in die rettende Emigration versperrt blieb, begann in Hamburg eine Leidenszeit der forcierten Ausgrenzung und Entrechtung, an deren Ende Deportation und Massenmord standen.

Jürgen Sielemann