Jüdische Gemeinde nach 1989

Gemeinderundschreiben (russisch)

Die Jahreswende 1989/1990 läutete für die Jüdische G. in Hamburg nicht nur einen Generationswechsel in den Gemeindegremien ein, sondern war auch Signal für grundlegende Neuerungen und vertragliche Regelungen mit der Freien und Hansestadt Hamburg.

1989 hatte Hamburgs Jüdische G. 1.340 Mitglieder, davon waren 30 Prozent älter als 60 Jahre, 2004 waren es insgesamt über 5.000 Mitglieder, davon waren 50 Prozent älter als 60 Jahre, 2.000 Mitglieder lebten im Bundesland Schleswig-Holstein, die bis zum 1. Januar 2005 von Hamburg aus mit betreut wurden.

Gemeinderundschreiben 2005 in deutscher SpracheAm 10. Dezember 1989 gewann die Liste 3 (Kadima) zwölf der insgesamt 15 Sitze im Beirat (Gemeindeparlament). Die Vertreter der Kadima wollten mehr innere Demokratie und Transparenz erreichen, die Öffnung der G. nach außen fördern, zugleich aber auch Traditionen bewahren. Am 21. Januar 1990 trat der für vier Jahre gewählte Beirat zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Gleichzeitig wurde damit ein Generationenwechsel vollzogen, denn zwei Drittel der Beiratsmitglieder waren nach der Shoa geboren.

Die Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Beirat war nicht immer harmonisch. Schließlich traten vier der fünf Vorstandsmitglieder zurück – sechs Wochen vor Ablauf ihrer Amtszeit, die am 31. März 1991 geendet hätte. Um die Gemeinde nicht handlungsunfähig zu machen, musste der Beirat schnell handeln. Auf einer außerordentlichen Sitzung am 4. Februar 1991 wählte er vier Nachfolger, die erst einmal bis Ende März die Gemeinde nach außen vertraten. Am 1. April 1991 nahm schließlich der neu gewählte Vorstand seine Arbeit auf, dem erstmals in der Hamburger Geschichte auch eine Frau angehörte.

Im Zusammenhang mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Perestroika begann Ende 1990 die Zuwanderung von Juden aus der Sowjetunion nach Deutschland, hauptsächlich nach Berlin, aber auch nach Hamburg, um hier Verwandte zu besuchen. Viele wollten nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren und baten daher die G. in Hamburg um Hilfe, die sie vorübergehend im inzwischen geschlossenen jüdischen Altersheim unterbrachte. Erst durch einen Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991 erfolgte eine geregelte Aufnahme von sowjetischen Juden zur Erhaltung der Lebensfähigkeit jüdischer Gemeinden, zur Familienzusammenführung und in sonstigen Härtefällen. Die Bundesregierung wollte neben der Stärkung der jüdischen Gemeinden auch eine Revitalisierung des jüdischen Beitrags zum Kultur- und Geistesleben in Deutschland erreichen. Die Verteilung der Zuwanderer, so genannte »Kontingentflüchtlinge«, auf die einzelnen Bundesländer erfolgte nach dem »Königsteiner Schlüssel«, der je nach Größe der Bundesländer eine differenzierte Aufnahmequote vorsah. Im Mai 1991 hatten sich ca. 30 »Kontingentflüchtlinge« in der Hamburger Gemeinde gemeldet. Dank der Unterstützung des damaligen FDP-Vorsitzenden Robert Vogel konnten die ersten Zuwanderer in Gebäuden am Mittelweg untergebracht werden. Die G. rief ihre Mitglieder zu Sachspenden auf. Später wurden die Neuankömmlinge in städtischen Unterkünften beherbergt, bis sie eine eigene Wohnung fanden. Dieses Verfahren galt bis 2004.

Naftali Bar-Giora Bamberger mit dem Chanukka-LeuchterDie Zuwanderung hat die Zusammensetzung der G. und das Miteinander völlig verändert. Nicht nur, dass die G. zu einer sozialen Anlaufstelle wurde, das innere Leben richtete sich zusehends an den Bedürfnissen der Zuwanderer aus. So wurden auch eigens Sozialbetreuer in Hamburg und Schleswig-Holstein mit russischen Sprachkenntnissen eingestellt, selbst die gemeindeinternen Rundschreiben werden zweisprachig in Deutsch und Russisch verfasst. Für die Zuwanderer gibt es russischsprachige Kulturprogramme, die von ihnen selbst geleitet werden. Es wurde auch eine stark frequentierte russischsprachige Bibliothek eingerichtet. An den Gottesdiensten und Feiertagen beteiligen sich die mit der jüdischen Religion wenig vertrauten Zuwanderer dagegen kaum, schließlich waren sie von dem politischen System in der ehemaligen Sowjetunion geprägt, das durch einen starken Antisemitismus verschärft worden war. Für den Fortbestand der jüdischen Gemeinschaft in Hamburg war und ist die Zuwanderung von großer Bedeutung, allerdings fühlen sich viele »Alteingesessene« inzwischen fremd in ihrer eigenen Gemeinde.

In den Fokus der Hamburger Öffentlichkeit gelangte die Gemeinde durch den Konflikt um die Bebauung des ehemaligen jüdischen Friedhofs in Ottensen (101) 1991, als Mitglieder der ultraorthoxen Vereinigung Atra Kaddischa mit Demonstrationen gegen das Bauvorhaben für ein Einkaufszentrum vorgingen. Nach einjährigen Verhandlungen konnte der Konflikt erst durch einen rabbinischen Schiedsspruch beendet werden. Für den im April 1991 für vier Jahre gewählten Vorstand war dies eine große Herausforderung. Die Ausstellung 400 Jahre Juden in Hamburg, die im November 1992 im Museum für Hamburgische Geschichte eröffnet wurde, ermöglichte es der G., sich in einem breiten Rahmenprogramm der nichtjüdischen Öffentlichkeit vorzustellen. Podiumsdiskussionen, Synagogenführungen und kulturelle Veranstaltungen zeigten, dass es in Hamburg ein aktives jüdisches Leben gibt. Für die G. selbst war die Rückkehr des achtarmigen Chanukka-Leuchters der ehemaligen Synagoge der Hochdeutschen Israeliten zu Altona am 20. Dezember 1992 (26. Kislew 5753), dem jüdischen Lichterfest, ein bewegender Moment. Der aus dem 17. Jahrhundert stammende Messingleuchter, dessen Fuss- und Kandelabersäule vom Hebraisten Naftali Bar-Giora Bamberger (1919-2000) im Magazin des Altonaer Museums gefunden worden war, fand in einem feierlichen Gottesdienst mit dem Landesrabbiner Nathan Peter Levinson in der Synagoge seinen endgültigen Platz. Nathan Peter Levinson war 30 Jahre lang Rabbiner von Hamburg und Schleswig-Holstein. Seine Nachfolge trat im Oktober 1993 Dov-Levy Barsilay an, der zuvor in Dortmund amtiert hatte.

Am 22. November 1993 unterzeichneten die Stadt Hamburg und die G. erstmals einen Fünf-Jahres-Vertrag, wonach die G. von 1994 an jährlich einen Zuschuss von 500.000 Mark (ca. 250.000 Euro) »für die Erfüllung ihrer kulturellen und sozialen Aufgaben« erhalten sollte. Der Vertrag sei Ausdruck der besonderen Verantwortung für das jüdische Leben in Hamburg, sagte der damalige Bürgermeister Henning Voscherau (SPD). 1998 wurde der Vertrag um weitere fünf Jahre verlängert, der Zuschuss erhöhte sich bis zum Jahr 2003 auf 700.000 Mark (ca. 350.000 Euro). Im Juni 2007 wurde erstmals ein Staatsvertrag - ähnlich wie er mit den großen christlichen Kirchen besteht - unterzeichnet. Der Vertrag regelt Rechte und Pflichten und wird jährlich mit 850.000 Euro staatlich gefördert, eine vertraglich festgelegte Summe geht an die 2004 gegründetet Liberale Gemeinde e.V.. Bürgermeister Ole von Beust (CDU) hob die Bedeutung des Vertrages hervor, der jüdisches Leben in Hamburg unter besonderen Schutz stelle und fördere.

In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts konzentrierte sich die G. auch auf die steigende Zahl von Zuwanderern im Nachbarland Schleswig-Holstein. In Lübeck und Kiel wurden Gemeinden gegründet, die von der Hamburger G. betreut und verwaltet wurden. Am 29. Januar 1998 schloss die G. in Hamburg mit der Landesregierung von Schleswig-Holstein einen fünf Jahre laufenden Staatsvertrag, »in dem Wunsch, den Wiederaufbau des jüdischen Gemeindelebens zu erleichtern«, so die damalige Ministerpräsidentun Heide Simonis (SPD). Die Höhe betrug 400.000 Mark (ca. 200.000 Euro) und stieg stufenweise auf 700.000 Mark (350.000 Euro). Der Vertrag verlängerte sich jeweils um drei Jahre. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Gemeinden in Schleswig-Holstein 1.200 Mitglieder, die fast ausschließlich aus den GUS-Staaten eingewandert waren. Im Januar 2005 wurden die jüdischen Gemeinden in Schleswig-Holstein endgültig unabhängig von der G. in Hamburg. Es hatten sich zwei Landesverbände gegründet, 2002 der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein mit Sitz in Bad Segeberg und 2004 der Verband der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein mit Sitz in Lübeck, der sich aus den ehemaligen von Hamburg verwalteten Gemeinden zusammensetzte. Die Mittel aus dem Staatsvertrag wurden nach Mitgliederstärke aufgeteilt. Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein erhielt 88.000 Euro, der andere rund 270.000 Euro. Kurz nach der Vertragsunterzeichnung erhielten die beiden Landesverbände den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Wegen der starken Zuwanderung entschloss sich die Hamburger G., einen jüdischen Kindergarten zu gründen. Im September 2000 wurde der Ronald S. Lauder-Kindergarten provisorisch im Gemeindezentrum in der Hohen Weide (55) eröffnet und bezog im Juni 2001 seine neuen Räume im Verwaltungszentrum in der Schäferkampsallee 27. Der Ganztagskindergarten, in dem anfangs zwanzig Kinder betreut wurden - Ende 2009 waren es bereits 50 Kinder - vom Krippen- bis zum Vorschulalter - , erhält finanzielle Unterstützung sowohl von der Freien und Hansestadt Hamburg als auch von der Stiftung des amerikanisch-jüdischen Industriellen Ronald S. Lauder.

Nach jahrelangen Bemühungen übertrug die Freie und Hansestadt Hamburg im Oktober 2002 den Besitz am Grundstück der Talmud Tora Schule am Grindelhof 30 auf die G. Die Bürgerschaft stimmte der Rückübertragung des Geländes im Wege der Schenkung zu und bewilligte 500.000 Euro für Sicherheitsmaßnahmen. Die Reemtsma-Stiftung spendete ebenfalls 500.000 Euro für Zwecke des Denkmalschutzes. Am 1. Juli 2004 wurde das Eigentum am Grundstück an die Stiftung Jüdisches Leben übergeben. Der Stiftungsvorstand ist gleichzeitig der Vorstand der G. in Hamburg.

Im Juni 2007 wurde das unter denkmalpfelgerischen Gesichtspunkten restaurierte Gebäude bezogen und zum neunen Gemeindezentrum. Damit kehrte die G. wieder zurück an den Grindel, wo vor der Shoa das jüdische Leben blühte. Die Joseph-Carlebach-Schule, der Kindergarten und die Verwaltung sind hier untergebracht, ebenso finden in dem Gebäude interne und öffentliche Veranstaltungen statt.

Die in der Trägerschaft der G. stehende Ganztagsschule mit integrierter Vorschule hat ihren Schulbetrieb mit 20 SchülerInnen zum Schuljahr 2002/2003 begonnen. Mit dem Beginn des Schuljahres 2005/2006 wurde der Schulbetrieb ausgesetzt. Seit dem Wiederbeginn zum Schuljahr 2007/2008 im Gebäude am Grindelhof 30 steigt die Schülerzahl der Joseph-Carlebach-Schule stetig. 2009/2010 waren es 53 SchülerInnen, davon ca. 30 Prozent nicht jüdische SchülerInnen, die haupsächlich aus dem Stadtteil kommen.

Im November 2004 fand in Hamburg die erste »Jüdische Kulturwoche« statt. Vorwiegend Hamburger jüdische Künstler, hauptsächlich Neuzuwanderer, präsentierten das breite Spektrum ihrer Schaffenskraft. Die »Jüdische Kulturwoche« war eines von vielen postiven Zeichen für eine lebendige, vielfältige jüdische Gemeinschaft in Hamburg. Davon zeugt auch, dass sich unterschiedliche religiöse Strömungen gebildet haben: 2003 Chabad Lubawitsch mit einem eigenem Zentrum und zahlreichen Aktivitäten. auch in Kooperation mit der G. in Hamburg. Chabad Lubawitsch ist eine chassidische Gruppierung innerhalb des orthodoxen Judentums, die von Rabbiner Schneor Salman von Ljadi (1745-1812) begründet wurde.

2009 wurde die Kehilat Beit Shira - Jüdische Masorti Gemeinde Hamburg e.V. gegründet. Masorti vertritt innerhalb der jüdischen religiösen Strömungen eine Mittelposition zwischen Reform und Orthodoxie. 

Dennoch: Trotz aller Anstrengungen ist es für die G. in Hamburg ein schweres Unterfangen jüngere Menschen an die Gemeinde zu binden, alltägliche Interessen haben Vorrang, denn es geht darum, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren.

Zwanzig Jahre nach der Zuwanderung des Großteils der Hamburger Gemeindemitglieder aus den ehemaligen GUS-Staaten, frequentiert mehrheitlich die inzwischen Großeltern-Generation die Gemeinde, die hauptsächlich an russisch-kulturellen Veranstaltungen teilnimmt. Nur wenige Gemeindemitglieder aus den ehemaligen GUS Staaten engagieren sich auch in den Gemeindegremien.

Gabriela Fenyes