Vereinswesen

Wie in anderen Großstädten gab es auch in Hamburg ein entfaltetes jüdisches V. Entsprechend dem Anliegen und der sozialen Funktion lässt sich eine Gliederung in traditionelles und neues V. vornehmen, das sich insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ab Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts konstituierte.

Es waren zunächst vornehmlich religiöse Anliegen, die die Gründung eines Vereins veranlassten und die den jeweiligen Akteuren hohes Sozialprestige verliehen. Unverzichtbar im Gemeindeleben war die Chevra Kadischa ( Beerdigungswesen), die Verstorbene für die Bestattung herrichtete und das Begräbnis vornahm, die die ordnungsgemäße Durchführung der täglichen Gebete unterstützte, das gemeinsame Studium von Talmud und Tora ermöglichte sowie wohltätige Aufgaben wahrnahm. Aufgrund der besonderen Wohnverhältnisse der Hamburger Juden bildeten sich die Anfänge des traditionellen Vereinswesens besonders vielfältig heraus: Talmud-Tora-Vereine zum gemeinsamen Studium des Schrifttums, die manchmal im Besitz einer eigenen Betstube waren, Bikkur-Cholim-Vereine für Krankenbesuche und religiösen Beistand insbesondere am Sterbebett, Hachnassat-Kallah-Vereine für die Ausstattung mittelloser Bräute. Andere Vereinigungen gründeten sich – analog zum Versorgungssystem der Zünfte – für gegenseitige finanzielle Unterstützung bei Krankheit und Tod, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zahlreich zu modernen Kassen umgeformt wurden. Sie gewährten ihren Mitgliedern auch während der religiös vorgeschriebenen siebentägigen Trauer beim Tod eines Familienmitgliedes Beihilfen. Geradezu unüberschaubar war weiterhin das Feld der Wohltätigkeitsvereine ( Sozial- und Wohlfahrtswesen). Ein separates Vereinswesen mit einer eigenen Beerdigungsbrüderschaft entstand im Kreis des Neuen Israelitischen Tempelvereins.

Das alte V. bestand fort, als sich das neue herausbildete. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert gab es in Hamburg an die 150 jüdische Vereine. Aufgrund ihrer strukturellen Beschaffenheit (langfristige Festlegung des Zweckes bei freiwilliger, jederzeit zu beendender Mitgliedschaft) tradierten Vereine alte Anliegen über einen langen Zeitraum und gaben Impulse für neue, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen es erforderten. So richtete sich beispielsweise seit alters her Vereinsaktivität auf die Unterbringung und Verköstigung durchreisender Fremder am Schabbat. Als nach den Pogromen in Russland seit Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts viele Flüchtlinge die Hafenstadt passierten ( Auswanderung), entfaltete sich binnen kurzem ein Netzwerk von Hilfsinitiativen. Am Ende eines Jahrhunderts, das von sozialer Integration geprägt war, entstanden neue innerjüdische Zusammenschlüsse mit ausschließlich auf Juden bezogenen säkularen Zielen. In Hamburg lassen sich dabei drei Zentren ausmachen:

1. Das in vieler Hinsicht wichtigste neue Aktionsfeld war das der 1887 gegründeten Henry Jones-Loge ( Logenwesen), die zahlreiche Initiativen als organisatorisch selbstständige Einheiten entfaltete. Seit 1903 bot das Logenhaus in der Hartungstraße (92) vielen Vereinsaktivitäten ein Heim.

2. Zum Zentrum der »Sammlungsbewegung« wurde auch die 1898 gegründete Hamburger zionistische Ortsgruppe, deren ideelles Ziel primär darin bestand, osteuropäischen Juden eine neue Heimat in Palästina zu schaffen. Auch die Zionisten etablierten bzw. förderten weitere Vereine. 1913 sollen ca. 1.500 Mitglieder zum »harten Kern« Hamburger zionistischer Vereinigungen gehört haben.

3. Während Zionisten und Henry Jones-Loge in der Hansestadt zusammenarbeiteten und auf Vorstandsebene personelle Verflechtungen aufwiesen, gestalteten sich die Beziehungen zwischen Zionisten und dem dritten Zentrum, der erst 1901 gegründeten Ortsgruppe des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) von Anfang an schwierig. Der CV, der bis 1906 in Hamburg ungefähr 1.500 Mitglieder zählte, trat überwiegend mit programmatischen Großveranstaltungen auf.

Mit der Entfaltung des jüdischen Vereinslebens vollzog sich eine allgemeine innerjüdische Politisierung, die Hamburger Besonderheiten aufwies, aber zunehmend auch überregionale Gegebenheiten in die Hansestadt brachte. Nach dem hier 1909 durchgeführten Zionistenkongress, dem einzigen auf deutschem Boden, formierte sich die Orthodoxie auf Vereinsebene. Der religiös-zionistische Misrachi gewann erheblich an Zulauf, ausdrücklich als Gegengewicht zum Zionismus konstituierte sich die Vereinigung Moriah, eine frühe Umsetzung des Strebens nach einem weltweiten Bündnis der Orthodoxie. Eine Ortsgruppe der orthodoxen Weltorganisation Agudas Jisroel gründete sich 1913.

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich die Zersplitterung des jüdischen V.s fort. Ursachen hierfür waren zum einen Politisierung und Wertepluralismus innerhalb der Jüdischen Gemeinde. Zum anderen führten die bei den Hamburger Juden vorhandenen Grundströmungen der religiösen Orthodoxie, des Zionismus und des Liberalismus unverändert zu weiteren Differenzierungen auf praktisch allen Gebieten des religiösen, sozialen und kulturellen Lebens. Daneben verstärkte die sich fortsetzende Assimilation die Neigung, in nichtjüdischen Vereinen Mitglied zu werden, soweit dem nicht antisemitische Tendenzen entgegenstanden. Innerhalb der Deutsch-Israelitischen Gemeinde führte dies zu Zuordnungen entweder im Hinblick auf die Kultusverbände oder die jüdischen politischen Parteigruppierungen. Allerdings gab es Veränderungen in den Mitgliederzahlen. Vereine mit zionistischen Zielsetzungen konnten sich in der Weimarer Zeit stärker etablieren. Außerdem trat seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Generationsbruch deutlich hervor. Die jüdische Jugend suchte sich eigene Vereine ( Jugendbewegung), vor allem im Bereich des Sports (Bar Kochba, Makkabi, Blau-Weiß, später Schild, Sportvereine), der Wanderbewegung (Jung-Jüdischer Wanderbund, Blau-Weiß, Esra) und des Zionismus (Hechaluz). Demgegenüber verstärkte sich bei der älteren Generation die Hinwendung zu kulturellen Vereinen ( Franz Rosenzweig-Gedächtnisstiftung, Jüdische Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft, Gesellschaft für jüdische Volkskunde, Verband der Vereinigten Jüdischen Lernvereine), zu wirtschaftlichen Interessenverbindungen (u. a. Verein selbständiger jüdischer Handwerker und Gewerbetreibender von 1909) und unverändert zu zahlreichen Wohltätigkeitsvereinen (u. a. Hilfsverein der deutschen Juden) und zu Stiftungen. Eine gewisse Sonderstellung nahm die Ortsgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (1920) ein ( Vaterländischer Bund Jüdischer Frontsoldaten). Einige dieser Vereine waren Ortsgruppen von auf Reichsebene organisierten Dachverbänden.

Im NS-Staat veränderte sich die Struktur jüdischer Vereine grundlegend ( Jüdisches Leben zur Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung). Nicht-jüdische Vereine übernahmen im Sommer 1933 den so genannten Arierparagraphen und schlossen damit Juden aus. Das führte trotz einsetzender Emigration zunächst zur Zunahme der Mitgliederzahl der jüdischen Vereine, gleichzeitig aber zur sozialen und kulturellen Ghettoisierung. Dem jüdischen Vereinsleben, obwohl unter Überwachung der Geheimen Staatspolizei, erwuchs zunehmend die Aufgabe, einen innerjüdischen Freiraum und Schutzbereich herzustellen. Dies war insbesondere bei der Gründung und Tätigkeit des Jüdischen Kulturbundes der Fall. Die stete Auswanderung, welche die Führungsstruktur und die Mitgliederzahl traf, die Minderung der Vereinseinnahmen – auch aufgrund der allgemeinen Verarmung der Hamburger Juden – erschwerten es immer mehr, ein differenziertes jüdisches Vereinsleben aufrechtzuerhalten. Die Jüdische Gemeinde versuchte, diese Entwicklung durch eigene Maßnahmen personell und finanziell auszugleichen, konnte dies unter den Bedingungen des NS-Staates aber nur eingeschränkt leisten. Nach der Pogromnacht ( Novemberpogrom) löste die Geheime Staatspolizei 1938 nahezu alle jüdischen Vereine auf und überführte 1939 einige Bereiche wie das Schul- und das Wohlfahrtswesen ( Schulwesen) in die Zuständigkeit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Nur der Jüdische Kulturbund blieb im Interesse des nationalsozialistischen Regimes bis zum September 1941 auch in Hamburg weiter bestehen.

Erika Hirsch, Ina Lorenz