Kaiserreich und Weimarer Republik (1871-1933)
Zur Zeit der Gründung des Deutschen Reiches lebten in Hamburg etwa 14.000 Juden, das waren gut vier Prozent der 350.000 Einwohner der Stadt. Bereits in den Jahren vor der Reichsgründung waren weitreichende Entscheidungen gefällt worden, die das jüdische Gemeindeleben betrafen: Nach langen Diskussionen war in der Hamburger Verfassung von 1860 die Glaubensfreiheit festgeschrieben worden, d. h., niemand durfte aufgrund seines Glaubens benachteiligt, wie bisher vom Bürgerrecht oder aus bestimmten Berufen ausgeschlossen werden (→ Emanzipation).
1865 war die Zwangsmitgliedschaft in der Gemeinde aufgehoben und 1867 die neue → Deutsch-Israelitische Gemeinde gebildet worden, unter deren Dach Orthodoxie und Reformjudentum in zwei selbständigen Kultusverbänden – dem dominierenden Deutsch-Israelitischen → Synagogenverband und dem Israelitischen → Tempelverband – ihre religiösen Vorstellungen verwirklichen konnten. Dieses neue und in Deutschland einzigartige »Hamburger System« spiegelte das seit Jahrzehnten bestehende breite religiöse Spektrum unter den Hamburger Juden wider und gab auch dem hohen Anteil religiös indifferenter Gemeindemitglieder organisatorischen Halt. Die liberalen Juden der Stadt hatten damit nach heftigen Auseinandersetzungen ihr Ziel erreicht, dass sich der Einzelne für eine religiöse und organisatorische Bindung entscheiden konnte. Der orthodoxe Synagogenverband hatte im Kaiserreich ca. 1.200, der liberale Tempelverband zwischen 600 und 700 männliche Mitglieder. Die eigenständig organisierte → Portugiesisch-Jüdische Gemeinde spielte kaum noch eine Rolle, sie hatte 1872 nur noch 275 Mitglieder sefardischer Herkunft. Die Deutsch-Israelitische Gemeinde war für das → Schul-, Wohlfahrts- und Begräbniswesen zuständig; der Synagogenverband konnte jedoch seinen Einfluss im Ritus bei den Beschneidungen, Hochzeiten und Beerdigungen weitgehend durchsetzen. Der Ausbildung jüdischer Identität dienten u. a. die jüdischen Schulen – allen voran die → Talmud Tora Schule –, die von etwa der Hälfte der schulpflichtigen jüdischen Kinder besucht wurden.
Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinde und mit der Stadt gab es bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts um das Begräbniswesen (→ Beerdigungswesen). 1875 verweigerte Hamburg der Gemeinde ein Gelände auf dem neuen Ohlsdorfer Zentralfriedhof als Eigentum, überließ es der Gemeinde jedoch 1885 vertraglich zur Nutzung fast ohne Einschränkungen. 1894 wurde ein weiterer, gemäßigt konservativer Kultusverband gegründet, die → Neue Dammtor Synagoge, den die beiden anderen Kultusverbände in den folgenden Jahrzehnten vergeblich zu integrieren versuchten. Hamburg besaß damit als einzige Stadt in Deutschland eine jüdische Gemeinde mit drei religiös unterschiedlich orientierten Kultusverbänden.
Bis 1910 stieg die Zahl der jüdischen Bewohner Hamburgs um rund 5.000, ihr relativer Anteil an der Bevölkerung sank aber auf 1,87 Prozent aufgrund der insgesamt hohen Zuwanderung in die Stadt. Nur 52,3 Prozent der Juden waren in der Stadt geboren. Der rückläufige Anteil der Juden an der Hamburger Bevölkerung in den folgenden Jahren (1919: ca. 1,76 Prozent = ca. 18.500; 1933: 1,41 Prozent = 16.850) hatte seine Ursache auch in der großstädtischen Sozialisation als Mittel- und Oberschicht, in der spät geheiratet und weniger Kinder geboren wurden. Eine große Zahl Hamburger Juden konnte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den bürgerlichen Mittelstand aufsteigen. Die Familien der jüdischen Oberschicht besaßen zwar Vermögen, kamen damit aber nicht an den Reichtum der christlichen Führungsschichten der Stadt heran (→ Wirtschaftsleben). Faktisch wurde nach wie vor Juden, die sich öffentlich zu ihrem Glauben bekannten, der Zugang zum gehobenen Staatsdienst oder dem Offizierskorps verwehrt. Auch die sozialen Kreise blieben meistens getrennt. Die wohlhabenden Hamburger Juden pflegten den großbürgerlich-hanseatischen Lebensstil und verhielten sich in religiösen Fragen indifferent. Es finden sich kaum orthodoxe Juden unter ihnen. Angehörige einiger Familien traten zum Christentum über, um den gesellschaftlichen und beruflichen Ausschluss zu vermeiden.
Noch in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts lebten drei Viertel der Hamburger Juden in der Alt- und → Neustadt, konzentriert, aber nicht ghettoisiert in bestimmten Straßenzügen. Ende des Jahrhunderts setzte dann eine Wanderungsbewegung ein: Die wohlhabenderen jüdischen Stadtbewohner zogen nach Rotherbaum, Harvestehude und Eppendorf. Im → Grindelviertel entstand »Klein-Jerusalem« mit jüdischem Kleinhandel und -gewerbe sowie der Synagoge am → Bornplatz (50) und der → Talmud Tora Schule (91) im Zentrum. Um 1925 lebten rund 70 Prozent der Hamburger Juden in diesen Stadtteilen.
Das rege jüdische → Vereinsleben erweiterte sich um 1900 über religiöse und wohltätige Belange hinaus auf kulturelle und politische Aktivitäten. Zu diesen Neugründungen gehörten nun auch Frauenvereine (→ Israelitisch humanitärer Frauenverein und zionistische Vereine. Den bürgerlichen Bestrebungen der Zeit, Zeugnisse der Kulturgeschichte zu sammeln und auszustellen, entsprach 1898 die Gründung der → Gesellschaft für jüdische Volkskunde. Um 1913 gab es in Hamburg 136 jüdische Vereine, zugleich waren viele Juden auch in nichtjüdischen Vereinigungen aktiv. Auffällig ist das Engagement der Juden aus dem Hamburger Bürgertum in der Literatur und im Theater (→ Kunst und Kultur). So gründeten jüdische Intellektuelle 1891 die Literarische Gesellschaft, die zum Zentrum der Hamburger Literaturszene wurde. Die bedeutendsten Theater Hamburgs, das Thalia Theater und das Hamburger Stadttheater, wurden während des Kaiserreichs von Direktoren jüdischen Glaubens geleitet.
Für eine große Zahl von Juden war Hamburg nur eine Station auf ihrer Reise: Um der wirtschaftlichen Not und Pogromen in Osteuropa zu entgehen, wanderten sie über den Hafen nach Übersee aus (→ Auswanderung). Aus der Unterstützung Hamburger Juden für die Auswanderer entwickelte sich um 1900 allmählich eine zionistische Bewegung (→ Zionismus). Sie gründete Kolonisationsorganisationen und Hilfsfonds für Landankäufe in Palästina. 1909 fand in Hamburg der IX. Zionistische Weltkongress statt.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 glaubte ein großer Teil der Juden, durch den Kampf für das Vaterland nach der vor Jahrzehnten erfolgten rechtlichen Gleichstellung nun auch die gesellschaftliche Gleichberechtigung und Anerkennung erlangen zu können. Jüdische Organisationen – auch zionistische – riefen zu freiwilligen Meldungen zum Wehrdienst auf. Bis 1918 nahmen etwa 2.900 Hamburger Juden am Krieg teil, 457 von ihnen fielen. Dies entsprach in etwa ihrem Anteil an der Hamburger Bevölkerung. Jüdische Bürger Hamburgs zeichneten Kriegsanleihen und stellten ihre Firmen auf Kriegsproduktion um. Als sich die Kriegslage seit 1916 verschlechterte, verstärkte sich erneut der schon seit 1890 anwachsende → Antisemitismus. Eine Reaktion darauf war 1919 die Gründung einer Hamburger Ortsgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (→ Vaterländischer Bund), der – als zweitgrößte jüdische Organisation nach dem Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens – das Andenken an die jüdischen Kriegsteilnehmer bewahrte.
Die Jahre vom Ende des Ersten Weltkriegs 1918 bis 1933 waren von zunehmender Integration der Juden und deren wachsendem Selbstbewusstsein einerseits sowie einem aggressiven Antisemitismus vor allem der antirepublikanischen rechten Parteien andererseits gekennzeichnet. 1925 lebten rund 20.000 Juden in Hamburg, das entsprach 1,73 Prozent der Hamburger Bevölkerung. Die Deutsch-Israelitische Gemeinde vereinte nach wie vor unterschiedliche religiöse Ausrichtungen, hatte für die Hamburger Juden einen integrativen Charakter, musste zwischen liberalen und orthodoxen, zionistischen und gewerblichen Interessen vermitteln, durch soziale Fürsorge und Berufsberatung zugleich in den Wirtschaftskrisen helfen und sich gegen den Antisemitismus zur Wehr setzen. Das seit 1898 in Hamburg erscheinende einflussreiche Israelitische Familienblatt (→ Zeitungswesen) erreichte bis 1937 eine Auflage von 30.000 Exemplaren und informierte umfassend über alle Bereiche des jüdischen Lebens.
Erst in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre konnten Schifffahrt, Handel und Industrie in Hamburg wieder einen allmählichen Aufschwung verzeichnen. Vier Reedereien waren in jüdischem Besitz (→ Lucy Borchardt). Die fortschreitende Integration zeigte sich auch darin, dass mit den demokratischen Parteien zugleich Juden in den Senat und in Staatsämter gewählt wurden, darunter Gesundheitssenator → Louis Gruenwaldt, Wirtschaftssenator → Max Mendel, Finanzsenator → Karl Cohn und → Leo Lippmann als Leiter der Hamburger Finanzverwaltung bis 1933. Auch in der Wissenschaft wurden Juden nun auf Stellen berufen: Am 1908 gegründeten Kolonialinstitut lehrte → William Stern. Als 1919 die Hamburger Universität gegründet wurde, zog sie anerkannte jüdische Wissenschaftler wie z. B. → Erwin Panofsky oder → Otto Stern an. Der Philosoph → Ernst Cassirer wurde 1929 Rektor der Universität. Der Kunsthistoriker → Aby M. Warburg gründete die bedeutende → Kulturwissenschaftliche Bibliothek. Im lebendigen Kulturleben der zwanziger Jahre in Hamburg, sowohl der Musik wie der bildenden Kunst, der Literatur wie dem Theater, waren Juden tätig, allerdings nicht überproportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung.
Wie prekär die Integration der Juden aber tatsächlich war, zeigte sich in den wirtschaftlichen und politischen Krisen seit 1929. Weder die demokratischen Parteien noch die Gewerkschaften bekämpften nachhaltig den radikalen Antisemitismus von rechts. Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft setzte unmittelbar die Verfolgung von politischen Gegnern und des gesamten jüdischen Bevölkerungsanteils in Deutschland ein (→ Jüdisches Leben zur Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung).