Borchardt, Lucy
geb. May, Reederin, geb. 10.12.1877 Hamburg, gest. 4.2.1967 London
L., als Tochter des Arztes Dr. Siegmund May geboren, war fünf Jahre als Lehrerin tätig, bevor sie 1902 den Hamburger Kaufmann und Reeder Richard Borchardt heiratete. Als er 1915 zur Kriegsmarine eingezogen wurde, bestimmte er seine Frau zur Prokuristin. Nach dem Tode ihres Mannes im Jahre 1930 wurde B. alleinige Eigentümerin und gleichzeitig Geschäftsführerin der Fairplay Dampfschiffs-Reederei in Hamburg. Als überzeugte Zionistin erkannte sie frühzeitig die Bedrohung durch die nationalsozialistische Machtübernahme 1933. B. – »die einzige jüdische Reederin der Welt« – eröffnete zahlreichen Hamburger Juden Wege zur Flucht aus Deutschland. Dazu bot die Schleppertätigkeit der Fairplay gute Möglichkeiten zur illegalen → Emigration. Auf legalem Wege vermittelte sie bis Mai 1938 wenigstens 38 jüdischen Jugendlichen eine seemännische Berufsausbildung auf ihren Schiffen, die auf diese Weise die Zertifikatsvoraussetzungen für eine Einwanderung nach Palästina erfüllen konnten. Diese so genannte Seefahrts- → Hachschara, die sowohl im Hafen von Hamburg als auch auf See erfolgte, war in Deutschland ohne Beispiel. Der Druck des NS-Staates und der NSDAP, die prosperierende jüdische Reederei mit ihren zahlreichen Auslandsverbindungen und bedeutenden Schiffskontrakten zu »arisieren«, nahm im Jahre 1938 ständig zu. Die vollständige → »Arisierung« ihres Betriebes konnte die kluge Geschäftsfrau durch eine einzigartige Rechtskonstruktion verhindern. Das Unternehmen wurde im September 1938 im Einvernehmen mit dem Reichswirtschaftsministerium und dem Hamburger Gauleiter in eine »arisierte« Stiftung privaten Rechts umgewandelt, die offiziell der allgemeinen Volkswohlfahrt dienen sollte, indes vorrangig der Belegschaft der Reederei zugute kam. Zwei Schlepp- und einen Frachtdampfer durfte die ausscheidende Reederin hingegen lastenfrei ins Ausland verbringen. Im August 1938 floh die Reederin nach England, ohne ein eigenes Auswanderungsverfahren abzuwarten. B. kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in ihre Heimatstadt Hamburg zurück. Sie blieb in London, konnte aber erreichen, dass die Fairplay Reederei 1948/49 an die Familie Borchardt zurückgegeben wurde.