Wirtschaftsleben, Berufstätigkeit und soziale Schichtung der Hamburger Juden
Juden haben im Hamburger Wirtschaftsleben der letzten vierhundert Jahre eine bedeutende Rolle gespielt. Vor allem als Händler und Bankiers, aber auch als Ärzte und Juristen nahmen sie teil am wirtschaftlichen Geschehen der Stadt und dies in vielen Fällen mit großem Erfolg.
Erfolgreiche Unternehmen wie das Bankhaus → Warburg oder die Kaufhäuser der Gebrüder Heilbuth stehen exemplarisch für diesen Aspekt Hamburger Geschichte. Der Aufstieg von einer anfänglich lediglich zeitweise geduldeten Minorität zu einer in weiten Teilen dem städtischen Bürgertum angehörenden Bevölkerungsgruppe vollzog sich in mehreren Phasen. Waren es anfangs sefardische Juden (→ Portugiesisch-Jüd. Gemeinde), deren Wirtschaftstätigkeit Hamburgs Rolle als Handels- und Finanzzentrum mit beförderte, so folgten ihnen seit dem 18. Jahrhundert die aschkenasischen Juden, die sich vor allem im Bereich des Waren- und Kredithandels, zunehmend aber auch in den freien Berufen betätigten.
Die sefardischen Juden waren, bedingt durch ihre Herkunft aus verschiedenen europäischen Hafenstädten, aber auch aufgrund ihrer weitverzweigten familiären und wirtschaftlichen Netzwerke vor allem im Seehandel tätig. Als Großhändler betrieben sie Überseehandel mit den spanischen und portugiesischen Kolonien und waren für den Hamburger Brasilienhandel zentral. Zu den wichtigsten Gütern, die sie nach Hamburg brachten, gehörten Zucker und Tabak. Um 1612 waren 18 der insgesamt 28 Händler, die in Hamburg mit Zucker handelten, sefardische Juden. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts verlagerten sich die Aktivitäten der Sefarden in Hamburg zunehmend auf den Juwelenhandel, das Geld- und Kreditwesen sowie auf die Vermittlung von Handelsgeschäften als Makler. Der Überseehandel scheint infolge verstärkter Handelsaktivitäten in Holland, England und Skandinavien für die Sefarden seit dieser Zeit an Bedeutung verloren zu haben. Die verstärkte Hinwendung zum Geld- und Kreditwesen war Ausdruck für die Entwicklung der Hansestadt zu einem der führenden Finanzzentren in Nordwesteuropa. Hamburger sefardische Geldhändler tätigten Geschäfte mit zahlreichen fürstlichen Regierungen und Residenzen und sorgten nicht nur für die Finanzierung politischer Angelegenheiten sowie des Kriegswesens, sondern auch für die Belieferung verschiedener Höfe mit Luxuswaren. Die restriktive Abgabenpolitik des Senates führte am Ende des 17. Jahrhunderts zu einem Rückzug vor allem wohlhabender sefardischer Juden aus Hamburg.
Seit dem 17. Jahrhundert begannen auch aschkenasische Juden sich in der Stadt niederzulassen. Da ihnen der Zugang zu den meisten Handwerken versperrt war, waren auch sie überwiegend im Handel tätig. Mehrheitlich lebten sie vom Kleinhandel, vorzugsweise Textilien, Kolonialwaren und Lebensmitteln. Der in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts einsetzende Aufschwung des Hamburger Handels infolge erweiterter Handelsmärkte zog auch die Öffnung neuer Betätigungsfelder für Juden nach sich. Einer zunächst kleinen Gruppe gelang es, sich erfolgreich im Geld- und Kreditwesen sowie im Großhandel, aber auch einigen frühen Industrieunternehmen, zu etablieren. Jüdische Unternehmer begründeten im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Firmen, die noch 100 Jahre später als selbständige und florierende Geschäfte existierten, so etwa die Silberscheideanstalten der Gebrüder Beit (um 1773), der Gebrüder Jonas (1783) oder die Bankhäuser von Abraham Heilbut (um 1760), Moses Seligmann (1795), Levy Behrens (1796) oder Moses M. Warburg (1798). Während der französischen Besatzung der Stadt (1811-1814) gelangten weitere jüdische Kaufleute trotz eingeschränkter Handelsbedingungen zu geschäftlichen Erfolgen, insbesondere durch den Geldhandel (→ Salomon Heine, Marcus Abraham Heckscher, Jacob Oppenheimer oder Levy Hertz).
Die Gründung dieser und weiterer Unternehmen markiert den Beginn eines sich im 19. Jahrhundert vollziehenden Aufstiegsprozesses eines wachsenden Teils der Hamburger Juden, der nicht zuletzt in der für sie spezifischen Berufsstruktur begründet lag. Die folgenden Zahlen erhellen dies, wenn man berücksichtigt, dass Juden im 19. Jahrhundert etwa 4 bis 5 Prozent der Hamburger Bevölkerung ausmachten. In der Folgezeit sank ihr Anteil – trotz absoluter Zunahme – kontinuierlich auf 2,3 Prozent (1900) und schließlich auf unter 2 Prozent in den Jahren der Weimarer Republik. Im gleichen Zeitraum war etwa die Hälfte bis zu zwei Dritteln aller jüdischen Berufstätigen in Hamburg im Wirtschaftssektor »Handel und Verkehr« tätig, während lediglich ein Viertel bis zu einem Drittel aller Berufstätigen in der Hansestadt in diesem Bereich arbeiteten. Der Anteil der in »Industrie und Handwerk« tätigen Juden lag in dieser Periode zwischen 8 und 12 Prozent gegenüber etwa 32 Prozent der Gesamtbevölkerung und bei etwa 6 bis 7 Prozent im Bereich »Öffentlicher Dienst und freie Berufe« (Gesamtbevölkerung: 8 Prozent). Diese Durchschnittswerte spiegeln die für die jüdische Minderheit in Deutschland insgesamt charakteristische Berufsstruktur wider, die sich deutlich von der Gesamtbevölkerung unterschied. Einer überdurchschnittlichen Beschäftigung im Handelssektor standen eine relativ hohe Betätigung im Bereich freie Berufe und öffentlicher Dienst (bezogen auf den Anteil von Juden an der Gesamtbevölkerung) sowie eine weit unter dem Durchschnitt liegende Beschäftigung in Industrie und Handwerk gegenüber. Soweit es sich aufgrund der wenigen vorliegenden Zahlen beurteilen lässt, zählten auch im 19. Jahrhundert zu den bevorzugten Geschäftszweigen der Hamburger Juden der Handel mit Textilien und Tabak sowie die Vermittlung von Handelsgeschäften und das Geld- und Kreditwesen. Eine dominierende oder gar eine Monopolstellung hatten jüdische Unternehmer jedoch in keinem dieser Handelszweige inne. Selbst im Bereich der Privatbanken, wo Juden nicht nur in Hamburg stark präsent waren, lässt sich nur schwerlich von einer Dominanz jüdischer Bankiers sprechen. Die Bedeutung der Privatbanken für das allgemeine Wirtschaftsleben nahm zwar seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert aufgrund der Expansion anonymer Banken (Aktienbanken, Genossenschaftsbanken etc.) ab, doch spielten sie weiterhin eine wichtige Rolle, in Hamburg besonders im Im- und Exportgeschäft oder in der Kommissionierung von Waren aller Art. Etwas über die Hälfte aller Hamburger Privatbanken wurde 1923 von jüdischen Inhabern geleitet; bis 1930 ging ihr Anteil auf etwa 43 Prozent zurück.
Die berufliche Stellung ist im Hinblick auf die Wirtschaftstätigkeit ebenso relevant wie die ausgeübte Tätigkeit. Auch hier unterschieden sich Hamburgs Juden deutlich von der übrigen Bevölkerung. Den vorliegenden Angaben zufolge waren an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert 58 Prozent aller männlichen Juden selbständig tätig gegenüber 22 Prozent der übrigen Bevölkerung. Weitere 23 Prozent arbeiteten als Angestellte (gegenüber 12 Prozent der Gesamtbevölkerung), und 18 Prozent waren als Arbeiter und Gehilfen tätig (Gesamtbevölkerung: 63 Prozent). Obwohl sich in der Weimarer Republik diese Verhältnisse partiell änderten, blieb der Anteil der Selbständigen unter allen berufstätigen Juden mit 50 gegenüber 15,4 Prozent innerhalb der übrigen Erwerbstätigen sehr hoch. Der überdurchschnittliche Anteil an Selbständigen unter den Hamburger Juden bildete somit ein charakteristisches Merkmal der Beschäftigungsstruktur dieser Bevölkerungsgruppe.
Die soziale Schichtung der jüdischen Minderheit lässt sich vornehmlich mithilfe von Angaben zum Steueraufkommen beschreiben. 1832 zahlten 35 Prozent der Mitglieder der Gemeinde (→ DIG) aufgrund mangelnden Einkommens (oder als von der Steuer befreite Kultusbeamte) keine Gemeindesteuern; bis 1860/61 sank ihr Anteil auf 27,5 Prozent. Der kontinuierlichen Abnahme der Armen und untersten Einkommensgruppen entsprach, wie Zahlen aus der Zeit des Kaiserreichs belegen, eine Zunahme der mittleren und höheren Einkommen, die sich von der Entwicklung der gleichen Einkommensgruppen in der Gesamtbevölkerung unterschied. 1871 hatten rund ein Drittel aller in der Hamburger Gemeinde registrierten Juden ein Einkommen zwischen 600 und 1.200 Mark, hingegen verfügten 62 Prozent der Gesamtbevölkerung über ein Einkommen in dieser Höhe. 43 Prozent der erwerbstätigen Juden versteuerten ein Einkommen zwischen 1.200 und 3.600 Mark und 27 Prozent ein über der Grenze von 3.600 Mark liegendes Einkommen (Vergleichszahl: 12,3 Prozent). Die soziale Schichtung der Hamburger Juden im Kaiserreich war also geprägt durch eine vergleichsweise kleine Gruppe geringer Einkommen sowie überdurchschnittliche Anteile in den mittleren und höheren Einkommensgruppen. Inwieweit diese Schichtung sich in der Zeit der Weimarer Republik veränderte, ist angesichts fehlender Zahlen nicht konkret zu belegen.
Ähnlich wie in anderen Teilen des Deutschen Reichs und hier besonders in den Großstädten vollzogen die Juden Hamburgs im 19. Jahrhundert in weiten Teilen einen sozialen Aufstiegsprozess, der sie zu einem ökonomisch gewichtigen, aber sozial weiterhin separierten Bestandteil des lokalen Bürgertums werden ließ. Ihre überwiegende Betätigung im Handel, an der sie auch in der Phase der Hochindustrialisierung festhielten, fand gerade in der Handelsstadt Hamburg ein gleichsam ideales Betätigungsfeld und trug somit in erheblichem Maße dazu bei, sich erfolgreich im städtischen Wirtschaftsleben zu betätigen. Die Bereitschaft und Fähigkeit, mit einem breit gefächerten Spektrum von Waren zu handeln, ein hohes Maß an Selbständigkeit sowie ihre spezifische Berufsstruktur ermöglichten es der jüdischen Minderheit, sich über Jahrhunderte hinweg erfolgreich am Hamburger Wirtschaftsleben zu beteiligen – in einzelnen Fällen sogar an herausragender Stelle.