Schul- und Erziehungswesen
Bis zur Aufklärung stand die religiös-traditionelle Bildung im Mittelpunkt jüdischer Erziehung und hatte als identitätsstiftendes Moment hohe Bedeutung. Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts begann eine weitreichende Verschiebung. Die weltliche Bildung gewann durch die Aufklärung an Gewicht und wurde als Mittel auf dem Weg zur wirtschaftlichen Gleichstellung und rechtlichen → Emanzipation der Juden in der deutschen Gesellschaft gesehen.
Für jüdische Kinder und Jugendliche entwickelte sich daraus folgend im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl schulischer Bildungseinrichtungen. Diese Ausdifferenzierung wurde durch die innerjüdisch-religiösen Differenzen verstärkt. Im Einzelnen wären an schulischen Einrichtungen zu nennen: religiös-orthodoxe und religiös-liberale Schulen, Privatschulen jüdischer und christlicher Pädagogen sowie die staatlichen Volks- und höheren Schulen. Am Ende der Weimarer Republik besuchte etwa die Hälfte der jüdischen Schulpflichtigen staatliche schulische Einrichtungen.
Das jüdische Schulwesen begann mit dem ausschließlich religiösen Unterricht im »Cheder«, in jenen einklassigen »Schulen« im Zimmer (hebr.: Cheder) eines jüdischen Religionslehrers. Anfang des 18. Jahrhunderts existierten 39 derartige Einrichtungen, die alle in der Hamburger → Neustadt gelegen waren. Stärker weltlich orientierte Eltern schickten ihre Kinder auf private christliche Schreib- und Rechenschulen. Eine höhere Bildung erhielten im 18. und 19. Jahrhundert nur wenige Jugendliche, seit 1778 war dieser Weg auf dem Christianeum in Altona und seit 1802 auf dem Johanneum in Hamburg für Juden offen. Das Schulwesen der → Deutsch-Israelitischen Gemeinde differenzierte sich bis in die Weimarer Republik hinein nach Geschlecht. Spätestens seit dem »Gesetz betreffend das Unterrichtswesen«, das der Hamburger Senat am 11. November 1870 verkündete und das in Hamburg das staatliche Schulwesen begründete, mussten sich alle jüdischen Schulen im Lehrplan an den staatlichen Schulen ausrichten.
Für die Kinder ärmerer jüdischer Elternhäuser entstanden – wie in ganz Deutschland – so genannte Frei- oder Armenschulen, in denen der Zugang zum weltlichen Wissen und damit der Weg aus der Isolation geebnet werden sollte. In Hamburg wurden zwei Schulen für Jungen von jüdischer Seite aufgebaut: 1805 wurde die Israelitische Armenschule der Talmud Tora (40) gegründet, zunächst noch vorrangig als orthodoxe Religionsschule, ab 1822 öffnete sie sich auch weltlicher Bildung. So entwickelte sich diese Anstalt von einer Religionsschule im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer Volks-, später Realschule, in den frühen dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer neunstufigen Oberrealschule, die bis zum Abitur führte. Die → Talmud Tora Schule blieb aber immer die Schule der gesetzestreuen Juden. Liberal orientierte Juden gründeten 1815 die → Israelitische Freischule (41), die mit ihrer stärker weltlichen Ausrichtung als Alternative zur religiös orthodoxen Talmud Tora Schule intendiert war und daher Schüler auf ein weltliches Gewerbe vorbereiten sollte. Große Bedeutung wurde dem Deutschunterricht zugeschrieben, denn nur mit der Beherrschung der deutschen Sprache war auch eine gesellschaftliche Integration der Juden zu erreichen. Seit 1848 wurde die Schule von → Anton Rée geleitet. Durch die Aufnahme christlicher Schüler entwickelte sich die Schule zu einer gemischtkonfessionellen Anstalt. Nach 1870 war sie die zahlenmäßig größte Schule der Stadt. 1890 erhielt sie den Namen Stiftungsschule von 1815, da inzwischen weit mehr christliche als jüdische Schüler die Anstalt besuchten. 1920 wurde sie verstaatlicht und zur Dr. Anton-Rée-Realschule, 1933 musste sie wegen rückläufiger Schülerzahlen schließen.
Für Mädchen bestanden im 19. Jahrhundert die 1798 privat gestiftete Unterrichtsanstalt für arme israelitische Mädchen und die 1818 von der Deutsch-Israelitischen Gemeinde eingerichtete Armenschule für jüdische Mädchen. Beide Schulen wurden 1884 zur Israelitischen Töchterschule im Schulhaus Karolinenstraße (89) vereinigt. Die Schule orientierte sich am Lehrplan der Hamburger Volksschule und war allein jüdischen Mädchen vorbehalten. Unter der Schulvorsteherin → Mary Marcus, die die Schule über 50 Jahre hinweg bis 1924 führte, wurde die Schule ausgebaut, und unter → Alberto Jonas erhielt sie 1930 die Anerkennung als Realschule.
Für die Ausbildung einer großen Anzahl jüdischer Mädchen der Mittel- und Oberschicht waren vor allem auch Privatschulen von großer Bedeutung. So war mit dem Ziel, jüdischen Mädchen eine religiös-moralische wie auch wissenschaftliche Ausbildung zu geben, im Jahr 1863 die Private Höhere Mädchenschule von Moritz Katzenstein (44) gegründet worden. Als 1892 der Schriftsteller und Pädagoge → Jakob Loewenberg diese Schule übernahm, entwickelte sie sich zu einer der führenden reformpädagogisch inspirierten Anstalten des höheren Mädchenschulwesens in Deutschland. Zu dem Profil der Schule gehörte die Betonung der ästhetischen Fächer, die Weckung der kreativen Kräfte der Schülerinnen unter anderem im Literaturunterricht, Aufführungen und freie Schülervorträge sowie die künstlerische Ausgestaltung der Klassenräume. Darüber hinaus wurde die enge Verbindung von Schule und Elternhaus zu einem Markenzeichen des Pädagogen Loewenberg, der seine Schule auch christlichen Schülerinnen öffnete. Auch diese Anstalt musste 1931 aus wirtschaftlichen Gründen infolge der Weltwirtschaftskrise ihre Tore schließen.
Für Töchter liberal eingestellter jüdischer Eltern waren neben der Loewenberg-Schule insbesondere die Wahnschaff-Schule (1879-1939) und die Delbanco-Schule (1899-1915), aus der dann die Schule von Ria Wirth hervorging, gut frequentierte Bildungseinrichtungen. Für streng orthodox erzogene jüdische Mädchen der Oberschicht wurde 1893 die Israelitische Höhere Mädchenschule (48) gegründet. 1912 wurde sie als Lyzeum, später als Realschule anerkannt, musste aber ebenfalls 1931 aus finanziellen Gründen schließen. Für jüdische Mädchen wie für jüdische Jungen gleichermaßen galt auch noch in der Weimarer Republik: Wer studieren und damit Abitur machen wollte, war gezwungen, eine staatliche Schule zu besuchen.
Für Jungen und Mädchen der jüdisch-liberalen Oberschicht blieb bis zur Auflösung 1939 auch die privat geführte Bertramschule (1848 gegründet) eine geschätzte Bildungseinrichtung. Weitere private Anstalten, die von jüdischen Schülerinnen und Schülern besucht wurden, werden von Otto Rüdiger in seiner Geschichte des Hamburgischen Unterrichtswesens (1896) angeführt, sind von der Forschung bislang aber nicht aufgearbeitet worden.
Mit der Verdrängung der jüdischen Schülerinnen und Schüler aus den staatlichen Schulen der Hansestadt (→ Jüdisches Leben zur Zeit der Verfolgung) nahm die Zahl der Schülerschaft an den beiden verbliebenen jüdischen Schulen, der Talmud Tora Schule und der Jüdischen Mädchenschule in der Karolinenstraße, nach 1933 zunächst erheblich zu. Die beiden Schulen wurden zum Zufluchts- und Schutzraum jüdischer Kinder in einer ansonsten feindlichen Umgebung. Die Schulen setzten neben dem normalen Lehrstoff nun verstärkt auf eine berufsorientierte Vorbereitung für eine → Emigration nach Palästina oder in andere Aufnahmeländer. Im April 1939 wurden die beiden Schulen zwangsweise zusammengelegt. Einer Reihe von Schülerinnen und Schülern war bis dahin die Flucht ins Ausland geglückt. Seit 1941 durfte die Schule nur noch als Volksschule geführt werden und musste den Namen »Jüdische Schule in Hamburg« führen. Unterrichtet wurde in den Räumen des Schulhauses Karolinenstraße. Im Mai 1942 musste die Schule ins jüdische Waisenhaus Papendamm (67) umziehen. Am 30. Juni 1942 wurde die Jüdische Schule in Hamburg – wie alle jüdischen Schulen im Deutschen Reich – durch einen Erlass des Reichserziehungsministeriums geschlossen. Alle verbliebenen Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern sowie ihre Lehrerinnen und Lehrer wurden deportiert (→ Deportation). Kaum einer hat überlebt.