Sozial- und Wohlfahrtswesen

Wie in allen jüdischen Gemeinden entwickelte sich auch in Hamburg bereits in der Frühen Neuzeit eine jüdische Wohlfahrt, die zunächst durch die Synagogen verwaltet wurde und – abgesehen von der Arbeit einiger Vereine wie Beerdigungsbruderschaften ( Beerdigungswesen) – hauptsächlich die Verteilung von Almosen regelte.

Als sich im späten 18. Jahrhundert ein öffentliches Unterstützungswesen herausbildete, waren Juden von dessen Leistungen zunächst explizit ausgenommen. Nach der Befreiung der Stadt von den Franzosen entwickelte sich ein weit verzweigtes und auf Effizienz bedachtes separates jüdisches Wohlfahrtswesen. Im Jahr 1818 wurde die überwiegend durch die Deutsch-Israelitische Gemeinde finanzierte Israelitische Armenanstalt gegründet, die auf vier verschiedenen Gebieten aktiv war. Sie gewährte registrierten Armen eine regelmäßige finanzielle Unterstützung, unterstützte temporär Not leidende Juden mit Geld- oder Sachspenden, speiste jüdische Waisen- und Findelkinder und verteilte Brot, Suppe und gegebenenfalls medizinische Pflege an mittellose Juden. Betrieben wurde die Anstalt von ehrenamtlich tätigen Armenpflegern, die in sieben Distrikten arbeiteten, Anträge von Bedürftigen entgegennahmen und über Hilfsmaßnahmen entschieden. Die Institution war damit ähnlich organisiert wie die aus öffentlichen Mitteln finanzierte Allgemeine Hamburgische Armenanstalt von 1788. Nahezu zeitgleich wurden eine Reihe weiterer Institutionen gegründet: der Verein der jungen israelitischen Armenfreunde zur Vertheilung von Brod und Suppe, der seit 1818 mittels seiner Speisungen die Straßenbettelei bekämpfte, das Vorschuß-Institut von 1819, das Kredite an in Not geratene Gemeindemitglieder vergab, sofern diese einem »nützlichen Gewerbe« nachgingen, und die Depositen-Casse milder Stiftungen, die 1818 zunächst gegründet worden war, um Aussteuergelder zu verwalten, sich aber schnell zu einem wichtigen Finanzinstrument der Gemeinde entwickelte, das aus Stiftungen und Legaten eingenommene Gelder verwaltete.

Präventiv in der Armutsbekämpfung waren vor allem die jüdischen Schulen ( Schulwesen) tätig. Während eine 1798 von privaten Spendern gegründete Unterrichtsanstalt für arme israelitische Mädchen lediglich hauswirtschaftliche Fähigkeiten vermittelte, unterrichteten die orthodoxe Talmud Tora Schule von 1805 und die seit 1816 bestehende, der Reform nahe stehende Israelitische Freischule unbemittelte Jungen auf allen Gebieten. Zwei von Jüdinnen geleitete Bekleidungsvereine stellten diesen Schülern die Schuluniformen zur Verfügung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Zahl der bedürftigen Schüler in einer insgesamt prosperierenden Gemeinde sank, entwickelten sich beide Schulen zu nachgefragten Lehranstalten für die jüdische Mittelschicht. Ähnliches traf auf das 1841 durch eine Einzelspende des Bankiers Salomon Heine gegründete Israelitische Krankenhaus zu. Zunächst ein integraler Bestandteil der Armenfürsorge, entwickelte es sich später im Jahrhundert zu einer der führenden Anstalten Hamburgs, der sich auch zahlreiche nichtjüdische Patienten anvertrauten.

Weitere institutionalisierte Säulen jüdischer Wohlfahrtsarbeit waren ein Jungen- (27, 28) und ein Mädchenwaisenhaus (23) und das 1886 eröffnete, finanziell hervorragend ausgestattete Altenhaus (62) der Deutsch-Israelitischen Gemeinde, in dem Männer über sechzig und Frauen über fünfundfünfzig Jahre Aufnahme finden konnten. Daneben gab es eine Vielzahl von kleineren, meist auf bestimmte Zwecke spezialisierten jüdischen Vereinen, die das Unterstützungsangebot der größeren Institutionen ergänzten. Schließlich müssen die zahlreichen, vor allem in den letzten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts begründeten jüdischen Stiftungen für Freiwohnungen erwähnt werden, die preiswerte Unterkünfte vorwiegend, aber oft nicht ausschließlich, für Juden schufen. 1909 existierten in Hamburg insgesamt 66 solcher Stiftungen, ein Drittel davon waren von jüdischen Stiftern gegründet worden.

Das im Laufe des 19. Jahrhunderts wachsende jüdische Wohlfahrtswesen versorgte die bedürftigen jüdischen Einwohner Hamburgs in nahezu jeder Lebenslage. Besonderes Gewicht wurde auf die Prävention der Armut gelegt, und gerade in der zweiten Jahrhunderthälfte besaß das höchst erfolgreiche jüdische System Vorbildcharakter, was auch von Nichtjuden anerkannt wurde. Die vermögenderen jüdischen Einwohner der Stadt wandten über die Gemeindeabgaben, Sammlungen und Spenden nicht nur erhebliche finanzielle Mittel auf, sondern investierten auch viel Zeit und Mühe in Aufrechterhaltung und Verbesserung der wohltätigen Einrichtungen. Die Aufhebung des Gemeindezwangs und vollständige rechtliche Gleichstellung jüdischer und nichtjüdischer Hamburger in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts bedeuteten auch für die Wohlfahrt eine wichtige Zäsur ( Emanzipation). Der hamburgische Staat erklärte, dass nunmehr die Allgemeine Armenanstalt für jüdische Bedürftige zuständig sei und die institutionell separate Versorgung der Juden aufzuhören habe. Dies rief großen Widerstand in der Gemeinde hervor. Nach längeren Verhandlungen wurde ein Kompromiss geschlossen, der vorsah, dass ein separates jüdisches System auf freiwilliger Basis weiter existierte, Juden aber im Prinzip staatliche Unterstützung erhalten sollten. In der Praxis änderte sich dadurch jedoch nichts. Im Gegenteil, gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verdichteten sich die jüdischen Organisation und Institutionen in besonderer Weise und boten weiterhin Hilfe in allen Lebenslagen an.

Was motivierte die jüdischen Hamburger, dieses sehr kostspielige System auch nach dem Wegfall des staatlichen Zwangs noch auszubauen? Zum einen gebot dies die starke Verankerung wohltätigen Handelns in der jüdischen Tradition und Religion. Zum anderen war die organisierte Wohlfahrt ein integraler Bestandteil der jüdischen öffentlichen Sphäre Hamburgs und unverzichtbar für die Regulierung sozialer Beziehungen innerhalb der Gemeinde. Darüber hinaus waren sich die Juden bewusst, dass die Unterstützung ihrer eigenen Armen eine wichtige Voraussetzung für die Erlangung der Gleichberechtigung war. Auch nach den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts galt daher in der Gemeinde stets die Maxime, dass bedürftige Juden nach Möglichkeit nicht der Allgemeinheit zur Last fallen sollten. Von existentieller Bedeutung war das jüdische Unterstützungswesen schließlich wieder in der Zeit des Nationalsozialismus. Nach 1933 entzog der Staat jüdischen Bedürftigen sukzessive jede Unterstützung, sodass ein großer finanzieller und organisatorischer Druck auf den jüdischen Organisationen lastete ( Jüdisches Leben zur Zeit der Verfolgung). Dass diese trotz der durch Berufsverbote stark anwachsenden Zahl jüdischer Hilfesuchender und der aufgrund von Emigration finanziell geschwächten Gemeinde lange Zeit in der Lage waren, größeres Elend unter der jüdischen Bevölkerung zu verhindern, zeugt von der Leistungsfähigkeit des Systems und dem großen Engagement seiner Träger. Auch bei der Wiedergründung der Jüdischen Gemeinde in Hamburg im Sommer 1945 war eine Unterstützungsorganisation maßgeblich beteiligt. Die Hilfsgemeinschaft der Juden und Halbjuden kümmerte sich um die Bedürfnisse der Displaced Persons und Rückwanderer, die Hamburg nach dem Krieg (wieder) zu ihrer temporären oder endgültigen Heimat machten.

Rainer Liedtke