Frühe Neuzeit

Der Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit ist weniger durch Ereignisse denn durch Prozesse gekennzeichnet. Für die Juden im Alten Reich sind in ihrer europäischen Vernetzung folgende Prozesse von Bedeutung: Die Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel und die Conversos-Politik der dortigen habsburgischen Könige ab 1492, die Verdrängung aus den meisten Reichsstädten sowie zahlreichen Territorien im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert und die damit verbundene Herausbildung der Landjudenschaften; ferner die Fortsetzung der altkirchlichen Judenfeindschaft auch in den neuen reformierten Kirchen sowie der kulturelle Bedeutungsverlust unter anderem aufgrund demographischer Veränderungen.

Die Wende zur Moderne im ausgehenden 18. Jahrhundert wird bestimmt durch das Gesellschaftskonzept der Aufklärungselite mit dem Vorhaben, die Juden nach einem längeren Erziehungsprozess zu akkulturieren; weiterhin die Akzeptanz dieses Konzepts durch die jüdischen Aufklärer, die Maskilim, sowie deren Akkulturationsprogramme, ferner die sich anbahnende politische Emanzipation in der napoleonischen Ära. Insgesamt zeigt die Entwicklung der Juden im Alten Reich während der Frühen Neuzeit eine aufsteigende Tendenz, nämlich von einer gravierenden Existenzbedrohung zu Beginn des 16. Jahrhunderts zur Stabilisierung im ausgehenden 18. Jahrhundert, wobei für diese Zeit jedoch eine starke Marginalisierung und Verarmung des Gros der jüdischen Bevölkerung in Deutschland in Rechnung zu stellen ist.

Die Vertreibung aus den Reichsstädten und zahlreichen Territorien führte zu einem stärkeren Zusammenschluss der Juden im Alten Reich. Josel von Rosheim (1478-1554), »Befehlshaber der Jüdischheit teutscher Nation« seit 1530, verhinderte durch geschickte Politik gegenüber Kaiser Karl V. die endgültige Verdrängung der Juden, konnte aber Vertreibungen aus den protestantischen Territorien wie im Fall des Kurfürstentums Sachsen (1537) nicht verhindern. Luthers Haltung bei diesem Vorgang zeigt, dass die neue reformierte Kirche den traditionellen Judenhass der alten Kirche fortsetzte. Als Folge entstand eine erneute Vertreibungswelle, diesmal aus lutherischen Städten und Territorien, bzw. eine Zulassung von Juden in protestantischen Territorien nur unter restringierten Bedingungen für den jüdischen Kultus. Das Privileg Karls V. von 1544, das den Juden ein Bleiberecht im Reich garantierte, konnte gegen die Territorialherren nicht durchgesetzt werden, denen 1548 endgültig die Verfügungs- und Schutzrechte über die Juden in ihren Territorien zugesprochen worden waren. Im 17. und 18. Jahrhundert beschränkte sich der kaiserliche Schutz auf die Sicherung der Rechte der Juden in den ihnen verbliebenen Reichsstädten. Unter diese kaiserlichen Schutzmaßnahmen ist auch der Erlass des 1710 herbeigeführten Hamburger Juden-Reglements zu rechnen.

In den wenigen Territorien oder Adelssitzen, die den Juden für Niederlassungen verblieben, entwickelten diese mit der Einrichtung der Landjudenschaften neue Organisationsformen. Alle männlichen Mitglieder bildeten eine Gemeinde. An der Spitze standen der Vorsteher, die Kollektoren sowie der Landrabbiner. Die Gemeindeangelegenheiten, vor allem die Aufteilung der Schutzgeldsumme auf die einzelnen Mitglieder (Repartition), regelte ein jährlich tagender Landtag, dem alle beitragzahlenden Mitglieder angehörten. Soweit Juden in Städten ein Aufenthaltsrecht erhielten, galt dieses vielfach nur zeitlich begrenzt (5 oder 10 Jahre) und wurde auf einzelne Familien beschränkt. Im Umfeld bedeutender Handelsstädte, in denen Juden kein Wohnrecht erhielten, bildeten sich größere Land- oder Kleinstadtgemeinden (z. B. Fürth, Altona, Moisling).

Im ausgehenden 16. Jahrhundert setzte eine demographische Wende ein. Die Stadtgemeinden (Prag, Frankfurt a. M.) wuchsen wieder, neue (Mainz, Metz, Glogau) entstanden. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Prozess Altona und Hamburg. Im Zuge seiner Territorialpolitik ermöglichte um 1600 der Schauenburger Graf die Niederlassung aschkenasischer Juden im Flecken Altona und erteilte ihnen 1612 ein Generalgeleit. Bereits 1622 konnten die 30 jüdischen Familien eine Gemeinde mit entsprechender Infrastruktur (Stubensynagoge, Friedhof) bilden. Von Altona aus versuchten die Aschkenasim auch in Hamburg Fuß zu fassen. Unabhängig davon ließen sich zur selben Zeit in der Hansestadt portugiesische Marranen, d. h. getaufte Juden, als Marchant Adventurers nieder, unterstützt vom Hamburger Senat wegen dessen Orientierung auf den Amerikahandel. Als die Marranen rejudaisierten, verlangte die Bürgerschaft die Ausweisung der sefardischen Juden. Der Rat setzte sich jedoch durch und stellte sie 1612 in einem Kontrakt »Kaufmannshantierung« den anderen Bürgern gleich, verbot aber die Einrichtung einer jüdischen Infrastruktur.

Die Rechtssicherheit der Juden im Reich wurde im 16., aber vor allem im 17. Jahrhundert von den Territorialherren durch Judenordnungen verbessert. Diese definierten Regeln für das Zusammenleben von jüdischer Minderheit und christlichen Untertanen sowie die Höhe der Schutzgeldabgaben. Neben dem Schutzgeld hatten Juden weitere Steuern zu entrichten. Für die eigenen Kultus- und Schulkosten mussten die Gemeinden selbst aufkommen. Der durch die Landgemeinden bedingten Abkapselung jüdischer Gemeinden konnte unter anderem durch Rabbiner abgeholfen werden, die an den deutschen Talmudhochschulen ausgebildet worden waren und den Kontakt zwischen den Gemeinden aufrechterhielten. Zur Überwindung der Vereinzelung trug auch die jiddische Literatur bei, die durch jüdische Druckereien in Umlauf gesetzt wurde. Jiddischsprachige Epen griffen häufig Sagenstoffe der deutschen Literatur auf und beweisen eine kulturelle Öffnung der jüdischen Gemeinde zur christlichen Mehrheitsgesellschaft.

Die jüdischen Untertanen lebten weitgehend vom Hausierhandel. In größeren jüdischen Gemeinden wie in Prag gab es auch Handwerker der Nahrungsmittel- und Konfektionsberufe. Bedingt durch die Nachfrage der absolutistischen Höfe gelang einigen jüdischen Händlern im 17. Jahrhundert der Aufstieg zu Hoffaktoren. Diese hatten die fürstlichen Haushalte mit Krediten, Preziosen oder auch Heeresausrüstungen zu versorgen. Im 18. Jahrhundert differenzierte sich das soziale Feld sehr breit von den reichen Hoffaktoren bis zu den Betteljuden. Zu Letzteren zählten die Juden, die ihr Schutzgeld nicht aufbringen konnten und deshalb bettelnd durchs Land zogen. Das jüdische Armenwesen (Chalukka) ermöglichte diesen zumindest am Schabbat und an den Feiertagen die Versorgung durch die Gemeinden.

Durch die Judenpolitik des brandenburgischen Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm konsolidierte sich die Niederlassungspolitik in einem der bedeutendsten Länder des Alten Reiches. Sein Judenprivileg von 1671 ermöglichte den Zuzug der aus Wien vertriebenen Juden sowie der Juden, die nach den polnisch-ukrainischen Chmelnicki-Pogromen nach Deutschland geflüchtet waren. Auch wenn seine Nachfolger Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. durch ihre Judengesetze (1730, 1750) die judenfreundliche Politik wieder einschränkten, wurde Brandenburg-Preußen mit Berlin zum Zentrum der deutschen Juden in der Neuzeit. Auch Hamburg und Altona zählten im 17./18. Jahrhundert zu den Zentren der deutschen Judenheit. Zur Infrastruktur der jüdischen Gemeinde in Altona gehörte seit 1616 der Friedhof Königstraße (100) und die vermutlich seit 1620 oder früher existierende Stubensynagoge, für die 1622 ein »Schulklopfer«, d. h. ein Gemeindediener, bezeugt ist. Eine eigene Synagoge entstand nach 1682. Das »prächtige Gebäu« (J. J. Schudt) lag allerdings versteckt in einem Hinterhof in dem Quartier Papagoyen-/Kirch-/Breite Straße. Nach ihrer Zerstörung beim Stadtbrand (1711) wurde sie bis 1716 wieder aufgebaut und blieb bis ins ausgehende 18. Jahrhundert die einzige Synagoge im Hamburger Raum. Die Hamburger aschkenasische jüdische Gemeinde entwickelte sich nach mehreren gescheiterten Versuchen nach 1650 von Altona aus. Als Versuch zur Selbständigkeit ist 1663 der Kauf eines Ackers für einen eigenen Friedhof in Ottensen (101) zu sehen. Seit der Gründung der Hamburger Chewra Kadischa 1670 ( Beerdigungswesen) ist von der Existenz einer eigenen Gemeinde auszugehen, die sich aber schon 1671 mit der Altonaer und der Wandsbeker Gemeinde zur Dreigemeinde zusammenschließen musste. Die Wandsbeker Gemeinde, deren Nucleus ebenfalls eine Chewra Kadischa (»Heilige Bruderschaft«) bildete, entwickelte sich seit 1637. Sie entstand unter dem Schutz des dortigen Gutsbesitzers von Rantzau. Dass die Dreigemeinde über die Territorialgrenzen hinweg gegründet wurde, der Altonaer Oberrabbiner damit auch über die Untertanen der Freien Reichsstadt Hamburg verfügte, war einmalig im Alten Reich. Doch bestimmte der Hamburger Rat politisch mit seiner Judenordnung von 1710 über seine Juden. Diese war allerdings durch Vermittlung eines kaiserlichen Gesandten zustande gekommen, was beweist, dass der Kaiser zumindest in den Reichsstädten seinen Anspruch auf das kaiserliche Judenregal auch im 18. Jahrhundert noch nicht aufgegeben hatte. Die napoleonische Politik beschleunigte ab 1806 den Emanzipationsprozess, wurde aber nicht fortgesetzt, als durch den Wiener Kongress (1815) wiederum eine restaurative Phase eingeleitet wurde und die Juden in Lübeck und Bremen ihr dort erlangtes Wohnrecht wieder verloren. In Hamburg galt zwar wieder das Reglement von 1710, doch wurde staatlicherseits nach Auflösung der Dreigemeinde (1811) die Gründung einer Gemeinde mit entsprechender Infrastruktur nicht mehr in Frage gestellt ( DIG). Durch die Gründung des Neuen Israelitischen Tempelvereins (1817) wurde Hamburg dann zu einem Vorort der Reformbewegung in Deutschland. Mit dem Untergang der alten Gemeindestruktur und der Definition eines reformierten Judentums endet für die Hamburger Juden die Epoche der Frühen Neuzeit.

Arno Herzig